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RA Digital - 04/2019

Die Ausbildungszeitschrift von Jura Intensiv.

208 Referendarteil:

208 Referendarteil: Öffentliches Recht RA 04/2019 Erst-Recht-Schluss; eine weitere Prüfung erübrigte sich daher. Da die Allgemeinverfügung bereits mangels Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen rechtswidrig ist, war auf die Ermessensausübung nicht mehr einzugehen. In der Praxis stützen Gerichte ihre Entscheidungen freilich nicht selten auf mehrere Gründe, um sie „beschwerde“- bzw. „berufungssicherer“ zu machen. Da die Zwangsmittelandrohung – anders als im Landesrecht – nicht kraft Gesetzes sofort vollziehbar ist, muss der Antrag auch hinsichtlich der Zwangsgeldandrohung auf „Wiederherstellung“ und nicht auf „Anordnung“ der aufschiebenden Wirkung lauten. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30.3.2007, OVG 1 S 31.07, juris Rn 8 oder in nächster Zukunft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein. Soweit es bereits an einer einfachen Gefahr fehlt, kann auch keine gesteigerte gegenwärtige Gefahr vorliegen. Ob die Bundespolizei bei Erlass der Allgemeinverfügung ihr Entschließungs- und Auswahlermessen fehlerfrei ausgeübt hat, kann vorliegend dahinstehen, da die tatbestandlichen Voraussetzungen der Allgemeinverfügung bereits fehlen. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers war auch im Hinblick auf die in der Allgemeinverfügung enthaltene Zwangsgeldandrohung wiederherzustellen. Trotz ihrer systematischen Stellung unter Ziffer 7. und damit vor der Zwangsgeldandrohung (unter Ziffer 8.) ist nach dem Wortlaut der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit, der sich auf die (gesamte) Verfügung bezieht, davon auszugehen, dass dieser die bundesrechtlich nicht gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO sofort vollziehbare Zwangsgeldandrohung erfasst. Mit der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen das Mitführverbot fehlt es an den Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 VwVG. Dieser setzt voraus, dass der zu vollstreckende Verwaltungsakt unanfechtbar ist oder seine sofortige Vollziehbarkeit angeordnet ist. Beides ist nach Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen das Mitführverbot nicht (mehr) der Fall. [...]“ FAZIT Im Rahmen eines Antrags nach § 80 V VwGO behandelt der Beschluss examensrelevante Probleme aus dem allgemeinen und besonderen Verwaltungsrecht: Mit der Frage nach der Bestimmtheit der Allgemeinverfügung beschäftigt sich das Gericht mit einer sowohl im Examen als auch in der Praxis häufigen Problematik aus dem allgemeinen Verwaltungsrecht. Die Entscheidung thematisiert ferner Grundfragen des Polizeirechts (Gefahrenprognose, Inanspruchnahme eines Nichtstörers), wobei die Besonderheit darin besteht, dass nicht das Handeln einer Landespolizeibehörde, sondern der Bundespolizei zu prüfen war. Dies stellt für Examenskandidaten zwar grundsätzlich eine Herausforderung dar, die Entscheidung zeigt aber, dass - wie bei unbekannten Konstellationen regelmäßig - kein Sonderwissen gefordert wird. Auch im Rahmen des Handelns der Bundespolizei gelten nämlich die allgemeinen aus dem Landespolizeirecht bekannten Grundsätze. Darüber hinaus ist die Entscheidung nicht zuletzt wegen der ausführlichen Darlegung der allgemeinen Rechtsgrundsätze und der anschaulichen Subsumtion des konkreten Sachverhalts besonders lehrreich. Jura Intensiv Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 04/2019 AUFSATZ ZUM STRAFRECHT (TEIL 1) Aufsatz zum Strafrecht (Teil 1) 209 Dr. Dirk Schweinberger, Frankfurt/M. Die Vermeidbarkeitsprüfung beim Doppelirrtum über einen Rechtfertigungsgrund Im berühmten „Katzenkönig-Fall“ 1 hat der Täter versucht, einen Menschen zu töten. Dies tat er, um den die Menschheit bedrohenden „Katzenkönig“ zu besänftigen, der nur durch dieses Menschenopfer von der Tötung von Millionen von Menschen abgehalten werden könne. Somit glaubte der Täter irrig an die rechtfertigenden Voraussetzungen des § 34 StGB. Nach Ansicht des BGH befand sich der Täter in einem sog. „Doppelirrtum“, da es einerseits – mangels „Katzenkönigs“ – keine Gefahr gab, andererseits aber die Abwägung „Leben gegen Leben“ ohnehin unzulässig gewesen wäre. Im Rahmen der Vermeidbarkeitsprüfung bei § 17 StGB stellt sich die Frage, ob es auf die Vermeidbarkeit des Irrtums über die Existenz des Katzenkönigs ankommt, oder vielmehr auf die Vermeidbarkeit der Vorstellung, Leben gegen Leben abwägen zu dürfen, oder gar auf die Vermeidbarkeit beider Irrtümer. A. Einleitung Sofern der Täter einem Irrtum über das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes unterliegt, stellt sich die Frage, welche Folgen dieser Irrtum für die Strafbarkeit des Täters hat. Jenseits des – alt bekannten – Streits zur rechtlichen Behandlung des Erlaubnistatbestandsirrtums kommt es entscheidend darauf an, ob der jeweilige Irrtum für den Täter vermeidbar war, oder nicht. Dieser Frage soll hier näher nachgegangen werden, vor allem mit Blick auf die Frage nach der Vermeidbarkeitsprüfung beim Doppelirrtum. Insoweit stellt sich insbesondere die Frage, ob sich die Vermeidbarkeitsprüfung bei der Rechtsfolgenbeurteilung des Doppelirrtums auf Rechtfertigungsebene ausschließlich auf den Rechtsirrtum oder auch auf den Sachverhaltsirrtum bezieht. Während meist alleine auf die Vermeidbarkeit des Rechtsirrtums abgestellt wird, 2 stellen andere 3 auf die Vermeidbarkeit von Sachverhalts- und Rechtsirrtum ab. Jenseits des dogmatischen Interesses ist es natürlich auch für den Prüfling von entscheidender Bedeutung, auf welche Irrtumskomponente des Täters er seine Ausführungen zur Vermeidbarkeitsprüfung beziehen muss. Insgesamt sind beim Doppelirrtum vier Fälle denkbar: Beide Irrtümer sind vermeidbar bzw. unvermeidbar, nur der Rechtsirrtum ist vermeidbar und (viertens) nur der Sachverhaltsirrtum ist vermeidbar. Diese vier unterschiedlichen Fallkonstellationen werden in den klassischen Lehrbüchern und Kommentaren nicht unterschieden, 4 weshalb dem hier näher nachgegangen werden soll. Von besonderem Interesse ist dabei der letztgenannte Fall, dass nur der Sachverhaltsirrtum für den Täter vermeidbar war. Schuster z.B. möchte in diesem Fall einen Fahrlässigkeitsvorwurf erheben, hält aber auch die Annahme einer Vorsatzstrafe für „sehr gut vertretbar“, 5 was ein signifikanter Unterschied in der Rechtsfolge wäre. Dies rechtfertigt es zusätzlich, der hier aufgeworfenen Frage nachzugehen. Um die Frage nach dem richtigen Bezugspunkt der Vermeidbarkeitsprüfung beim Doppelirrtum beantworten zu können, ist es – im Wege einer vergleichenden Betrachtung – notwendig, sich kurz zu vergegenwärtigen, welche unterschiedlichen Irrtümer über Rechtfertigungsgründe es gibt (hierzu gleich unter I.), um sich dann der Frage der rechtlichen Behandlung und der Vermeidbarkeit des Irrtums zu stellen (hierzu unter II.). Jura Intensiv 1 BGHSt 35, 347 ff. 2 Britz, JuS 2002, 465, 470; Kasiske, JA 2007, 509, 514; Neubacher/Bachmann, JA 2010, 711, 718 3 Momsen/Sydow, JuS 2001, 1194, 1198 4 Exemplarisch Hoffmann-Holland, AT, Rn 458 f.; Kühl, AT, § 13 Rn 80; Rengier, AT, § 31 Rn 16; Wessels/Beulke/Satzger, AT, Rn 485; SSW-StGB-Momsen, § 17 Rn 37 5 Schuster, JuS 2007, 617, 621 © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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