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RA Digital - 04/2020

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198 Öffentliches Recht

198 Öffentliches Recht RA 04/2020 Krankheitsphasen beschränkt. Eine Einengung des Schutzbereichs auf bestimmte Ursachen und Motive liefe auf eine Bewertung der Beweggründe des zur Selbsttötung Entschlossenen und auf eine inhaltliche Vorbestimmung hinaus, die dem Freiheitsgedanken des Grundgesetzes fremd ist. […] Die Verwurzelung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG impliziert gerade, dass die eigenverantwortliche Entscheidung über das eigene Lebensende keiner weiteren Begründung oder Rechtfertigung bedarf. Suizident begibt sich nicht selbst seiner Würde Ebenfalls geschützt: Hilfestellung durch Dritte Begründung: Ohne Hilfe Dritter ist Suizid häufig nicht möglich Klassischer Eingriff (-) Mittelbarer Eingriff (+) Objektiv erheblich belastende Wirkung Finalität [211] […] Die Menschenwürde, die dem Einzelnen ein Leben in Autonomie gewährleistet, steht der Entscheidung des zur freien Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fähigen Menschen, sich zu töten, nicht entgegen. Die selbstbestimmte Verfügung über das eigene Leben ist vielmehr unmittelbarer Ausdruck der der Menschenwürde innewohnenden Idee autonomer Persönlichkeitsentfaltung; sie ist, wenngleich letzter, Ausdruck von Würde. Der mit freiem Willen handelnde Suizident entscheidet sich als Subjekt für den eigenen Tod. […] [212] Das von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Recht, sich selbst zu töten, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen. [213] […] Zur grundrechtlich geschützten Freiheit gehört […] auch die Möglichkeit, auf Dritte zuzugehen, bei ihnen Unterstützung zu suchen und von ihnen im Rahmen ihrer Freiheit angebotene Hilfe anzunehmen. Das gilt insbesondere auch für denjenigen, der erwägt, sein Leben eigenhändig zu beenden. Gerade er sieht sich vielfach erst durch die fachkundige Hilfe kompetenter und bereitwilliger Dritter, insbesondere Ärzte, in der Lage, hierüber zu entscheiden und gegebenenfalls seinen Suizidentschluss in einer für ihn zumutbaren Weise umzusetzen. […]“ Demnach erstreckt sich der Schutzbereich des APR auch auf die Selbsttötung und das Recht, dafür die Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen. Jura Intensiv 2. Eingriff Fraglich ist, ob § 217 StGB in das APR der zur Selbsttötung entschlossenen Personen eingreift. Da die Norm nicht unmittelbar an diesen Personenkreis adressiert ist, liegt kein klassischer Grundrechtseingriff vor. Es könnte jedoch ein mittelbarer Grundrechtseingriff gegeben sein. „[216] Das in § 217 Abs. 1 StGB strafbewehrte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung macht es den Beschwerdeführern faktisch unmöglich, die von ihnen gewählte geschäftsmäßig angebotene Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen, weil entsprechende Anbieter ihre Tätigkeit nach Inkrafttreten von § 217 StGB zur Vermeidung straf- und ordnungsrechtlicher Konsequenzen eingestellt haben. […] [217] Die Beeinträchtigungen treten nicht nur reflexartig als Folge eines anderen Zielen dienenden Gesetzes ein. Sie sind von der Zweckrichtung des Gesetzes vielmehr bewusst umfasst und begründen damit in ihrer Zielsetzung und ihren mittelbar-faktischen Auswirkungen einen Eingriff auch gegenüber den suizidwilligen Personen. […] Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 04/2020 Öffentliches Recht 199 [218] Der von § 217 StGB ausgehende mittelbare Eingriff entfaltet dabei eine objektiv die Freiheit zum Suizid einschränkende Wirkung. Der Einzelne, der sein Leben mit der Hilfe geschäftsmäßig handelnder Dritter selbstbestimmt beenden möchte, ist gezwungen, auf Alternativen auszuweichen mit dem erheblichen Risiko, dass er mangels tatsächlicher Verfügbarkeit anderer zumutbarer Möglichkeiten einer schmerzfreien und sicheren Selbsttötung seinen Entschluss nicht realisieren kann. […]“ Demnach liegt ein mittelbarer Eingriff in das APR vor. II. Rechtfertigung des Eingriffs Der Eingriff in den Schutzbereich ist gerechtfertigt, soweit er durch die Schranken des Grundrechts gedeckt ist. a) Festlegung der Schranke Das APR findet seine Schranke in der sog. Schrankentrias des Art. 2 I GG, von der die verfassungsmäßige Ordnung einschlägig ist, die jeden Rechtssatz und damit auch § 217 StGB erfasst. b) Schranken-Schranken Fraglich ist allein, ob § 217 StGB dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügt. aa) Legitimer Zweck „[229] Ziel des Gesetzes ist es zum einen, die Entwicklung der Beihilfe zum Suizid zu einem „Dienstleistungsangebot der gesundheitlichen Versorgung“ zu verhindern, das Menschen dazu verleiten könnte, sich das Leben zu nehmen. Nach Einschätzung des Gesetzgebers […] besteht die Gefahr, dass durch Angebote geschäftsmäßiger Suizidhilfe und deren Verbreitung der „Anschein einer Normalität“ oder sogar der sozialen Gebotenheit der Selbsttötung und auf diese Weise geradezu eine Art Erwartungsdruck erzeugt wird, diese Angebote auch wahrzunehmen. […] Insbesondere alte und kranke Menschen könnten sich durch derartige, Normalität suggerierende Angebote zur Selbsttötung verleiten lassen oder dazu direkt oder indirekt gedrängt fühlen. Jura Intensiv [230] Zum anderen will der Gesetzgeber mit dem Verbot im Interesse des Integritäts- und Autonomieschutzes „autonomiegefährdenden Interessenkonflikten“ entgegenwirken und einer sich hieraus allgemein ergebenden Gefahr „fremdbestimmter Einflussnahme in Situationen prekärer Selbstbestimmung“ vorbeugen. […] Durch die Einbeziehung eines geschäftsmäßig handelnden Suizidhelfers, der spezifische, typischerweise auf die Durchführung des Suizids gerichtete Eigeninteressen verfolge, könnten die freie Willensbildung und Entscheidungsfindung und damit die personale Eigenverantwortlichkeit potentiell beeinflusst werden. […]“ Obersatz Vgl. Schildheuer, JURA INTENSIV Grundrechte, Rn 215, 228 1. Zweck: Lebensschutz Vgl. BT-Drs. 18/5373, S. 2 Vgl. BT-Drs. 18/5373, S. 2, 8, 11, 13, 17 2. Zweck: Schutz einer autonomen Entscheidung über das Lebensende Vgl. BT-Drs. 18/5373, S. 11, 17 Vgl. BT-Drs. 18/5373, S. 11, 12, 17, 18 Damit verfolgt der Gesetzgeber mittels § 217 StGB legitime Ziele. bb) Geeignetheit Die umstrittene Regelung muss geeignet, d.h. zweckförderlich sein. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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