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RA Digital - 04/2020

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Die Ausbildungszeitschrift von Jura Intensiv.

202 Öffentliches Recht

202 Öffentliches Recht RA 04/2020 Verweis auf zulässige Suizidhilfe im Ausland ändert nichts Der Schutz Dritter kann den Eingriff ebenfalls nicht rechtfertigen, weil er zu intensiv ist. [300] Die staatliche Gemeinschaft darf den Einzelnen zudem nicht auf die Möglichkeit verweisen, im Ausland verfügbare Angebote der Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen. Der Staat hat den erforderlichen Grundrechtsschutz gemäß Art. 1 Abs. 3 GG innerhalb der eigenen Rechtsordnung zu gewährleisten. [301] […] Anliegen des Schutzes Dritter, etwa die Vermeidung von Nachahmungseffekten oder die Eindämmung einer Sogwirkung geschäftsmäßiger Suizidhilfeangebote für in ihrer Selbstbestimmung fragile und deshalb schutzbedürftige Personen, können demnach zwar dem Grunde nach suizidpräventives Handeln legitimieren. Sie rechtfertigen aber nicht, dass der Einzelne die faktische Entleerung des Rechts auf Selbsttötung hinnehmen muss.“ Demnach ist § 217 StGB nicht angemessen und verstößt somit gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, was zur Folge hat, dass der Eingriff in das Grundrecht aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I 1 GG nicht gerechtfertigt ist. § 217 StGB verletzt die zur Selbsttötung entschlossene Personen daher in ihrem APR. FAZIT Zentrale Aussagen der Entscheidung: • Es gibt ein permanentes, vom APR geschütztes Recht auf Suizid, unabhängig von etwaigen Lebenskrisen. • Das Recht auf Suizid umfasst auch, die Hilfe Dritter in Anspruch nehmen zu dürfen. • Der Staat muss die Entscheidung, sich selbst zu töten, hinnehmen, er darf sie materiell nicht bewerten. Zulässig sind aber je nach Lebenssituation unterschiedliche Anforderungen an den Nachweis der Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit eines Selbsttötungswillens. Weiterhin zulässig sind staatliche Maßnahmen, die sicherstellen, dass diese Entscheidung wirklich dem Willen des Suizidenten entspricht (wie z.B. Aufklärungs- und Wartepflichten; Erlaubnisvorbehalte, die die Zuverlässigkeit von Suizidhilfeangeboten sichern), sowie Maßnahmen der medizinischen und pharmakologischen Qualitätssicherung. • § 217 StGB entleert faktisch weitgehend das Recht auf selbstbestimmtes Sterben, weil professionelle Hilfe Dritter beim Sterben, insbesondere durch Ärzte, in der Realität nicht zu erlangen ist und daher keine echte Alternative zu Sterbehilfevereinen darstellt. • Eine Verpflichtung zur Suizidhilfe darf es nicht geben. Jura Intensiv Verletzung des APR der Suizidenten führt automatisch auch zur Verletzung der Grundrechte der Suizidhelfer Rn 331 der Entscheidung Merksatz, wann die Verletzung der Grundrechte einer Person automatisch auch zu einer Grundrechtsverletzung bei einer anderen Person führen. § 217 StGB verletzt darüber hinaus auch die Grundrechte von Personen und Sterbehilfevereinen, die Suizidhilfe leisten möchten und damit unmittelbare Normadressaten des § 217 StGB sind. Das folgt aus dem Verstoß gegen das APR der Suizidenten, weil eine funktionale Verschränkung der betroffenen Grundrechte besteht: die Entscheidung zur Selbsttötung unter Inanspruchnahme der Hilfe Dritter ist nur möglich, wenn diese rechtlich dazu befugt sind, also nicht mit einer Bestrafung rechnen müssen. Abstrakt und damit verallgemeinerungsfähig formuliert: Der grundrechtliche Schutz des Handelns des einen ist Voraussetzung für die Ausübung eines Grundrechts durch den anderen. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 04/2020 Öffentliches Recht 203 Problem: Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen Einordnung: Grundrechte BVerfG, Beschluss vom 14.01.2020 2 BvR 1333/17 EINLEITUNG Der „Kopftuchstreit“ - ein juristischer Evergreen. Diesmal war aber nicht eine Lehrerin betroffen, sondern eine Rechtsreferendarin. Die „RA“ hatte bereits über den vorangegangenen Eilrechtsbeschluss des VGH Kassel berichtet (RA 2017, 421), der vom BVerfG jetzt inhaltlich bestätigt wurde. SACHVERHALT Die Beschwerdeführerin (B) war Rechtsreferendarin im Land Hessen. Sie trägt in der Öffentlichkeit ein Kopftuch. Noch vor Aufnahme der Ausbildung wurde sie durch das zuständige OLG mit einem Hinweisblatt darüber belehrt, dass sich Rechtsreferendare im juristischen Vorbereitungsdienst gegenüber Bürgern religiös neutral zu verhalten hätten und sie daher mit Kopftuch keine Tätigkeiten ausüben dürfe, bei denen sie als Repräsentantin der Justiz oder des Staates wahrgenommen werden könnte (z.B. beim staatsanwaltlichen Sitzungsdienst). Dagegen suchte B beim VGH Kassel erfolglos um Eilrechtsschutz nach. Sie sieht sich dadurch in ihrer grundrechtlich geschützten Glaubensfreiheit verletzt. Ist das zutreffend? LÖSUNG B ist in ihrer Glaubensfreiheit aus Art. 4 I, II GG verletzt, soweit die Entscheidung des VGH Kassel in den Schutzbereich dieses Grundrechts eingreift und der Eingriff nicht gerechtfertigt ist. I. Eingriff in den Schutzbereich Es muss ein Eingriff in die Glaubensfreiheit vorliegen. Jura Intensiv 1. Persönlicher Schutzbereich Das setzt voraus, dass der persönliche Schutzbereich dieses Grundrechts eröffnet ist. „[79] Die Beschwerdeführerin kann sich auch als in einem öffentlichrechtlichen Ausbildungsverhältnis stehende Rechtsreferendarin auf ihr Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG berufen. Ihre Grundrechtsberechtigung wird durch die Eingliederung in den staatlichen Aufgabenbereich nicht von vornherein oder grundsätzlich in Frage gestellt.“ Ein sog. Besonderes Gewaltverhältnis, in dem von vornherein kein Grundrechtsschutz existiert, ist also abzulehnen. Da es sich bei der Glaubensfreiheit ferner um ein „Jedermannsrecht“ handelt, ist der persönliche Schutzbereich eröffnet. 2. Sachlicher Schutzbereich Weiterhin muss der sachliche Schutzbereich der Glaubensfreiheit eröffnet sein. LEITSÄTZE 1. Die Rechtsreferendaren auferlegte Pflicht, bei Tätigkeiten, bei denen sie als Repräsentanten des Staates wahrgenommen werden […], die eigene Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft nicht durch das Befolgen von religiös begründeten Bekleidungsregeln sichtbar werden zu lassen, greift in die von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verbürgte individuelle Glaubensfreiheit ein. 2. Als […] Verfassungsgüter, die einen Eingriff in die Religionsfreiheit […] rechtfertigen können, kommen der Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates, der Grundsatz der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und mögliche Kollisionen mit der grundrechtlich geschützten negativen Religionsfreiheit Dritter in Betracht. Keine rechtfertigende Kraft entfalten dagegen das Gebot richterlicher Unparteilichkeit und der Gedanke der Sicherung des weltanschaulich-religiösen Friedens. 3. […] muss sich der Staat nicht jede bei Gelegenheit der Amtsausübung getätigte private Grundrechtsausübung seiner Amtsträger als eigene zurechnen lassen. Eine Zurechnung kommt aber insbesondere dann in Betracht, wenn der Staat - wie im Bereich der Justiz - auf das äußere Gepräge einer Amtshandlung besonderen Einfluss nimmt. 4. […] 5. Anders als im Bereich der bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule […] tritt der Staat dem Bürger in der Justiz klassisch-hoheitlich und daher mit größerer Beeinträchtigungswirkung gegenüber. 6. Das Verwenden eines religiösen Symbols im richterlichen Dienst ist für sich genommen nicht geeignet, Zweifel an der Objektivität der betreffenden Richter zu begründen. 7. […] 8. Angesichts der konkreten Ausgestaltung des verfahrensgegenständlichen Verbots kommt keiner der kollidierenden Rechtspositionen vorliegend ein derart überwiegendes Gewicht zu, das verfassungsrechtlich dazu zwänge, der Beschwerdeführerin das Tragen religiöser Symbole im Gerichtssaal zu verbieten oder zu erlauben. […] © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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