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RA Digital - 04/2022

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200 Öffentliches Recht

200 Öffentliches Recht RA 04/2022 Sinn und Zweck des Art. 267 AEUV Gefährdung der Zusammenarbeit der nationalen Gerichte mit dem EuGH Ausnahme vom Anwendungsvorrang bei Gefährdung nationaler Verfassungsidentität? Schutz der nationalen Identität durch den EuGH gem. Art. 4 Abs. 2 EUV Folge: Es ist nicht Sache des nationalen Verfassungsgerichts, die Verfassungsidentität des Mitgliedstaates zu schützen, sondern Sache des EuGH. „[64] Zudem ist darauf hinzuweisen, dass […] der durch Art. 267 AEUV festgelegte Vorabentscheidungsmechanismus sicherstellen soll, dass das Unionsrecht unter allen Umständen in allen Mitgliedstaaten die gleiche Wirkung hat, und damit unterschiedliche Auslegungen des von den einzelstaatlichen Gerichten anzuwendenden Unionsrechts verhindern und die Anwendung dieses Rechts gewährleisten soll. Zu diesem Zweck gibt dieser Artikel dem einzelstaatlichen Richter die Möglichkeit, die Schwierigkeiten auszuräumen, die sich aus dem Erfordernis ergeben könnten, dem Unionsrecht im Rahmen der Gerichtssysteme der Mitgliedstaaten zu voller Geltung zu verhelfen. Somit haben die einzelstaatlichen Gerichte ein unbeschränktes Recht oder sogar die Pflicht zur Vorlage an den Gerichtshof, wenn sie der Auffassung sind, dass ein bei ihnen anhängiges Verfahren Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit der unionsrechtlichen Bestimmungen aufwirft, die einer Entscheidung durch diese Gerichte bedürfen. [65] Folglich wäre die Wirksamkeit der durch das Vorabentscheidungsverfahren eingerichteten Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten und damit des Unionsrechts gefährdet, wenn die Entscheidung über eine Einrede der Verfassungswidrigkeit vor dem Verfassungsgericht eines Mitgliedstaats bewirken könnte, dass das innerstaatliche Gericht […] davon abgeschreckt wird, von der ihm durch Art. 267 AEUV eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, dem Gerichtshof Fragen vorzulegen, die die Auslegung oder die Gültigkeit von Rechtsakten des Unionsrechts betreffen, um darüber entscheiden zu können, ob eine innerstaatliche Vorschrift mit dem Unionsrecht vereinbar ist oder nicht.“ Folglich beeinträchtigt die Rechtsprechung des rumänischen Verfassungsgerichtshofs auch die Wirksamkeit des Vorabentscheidungsverfahrens und steht damit im Widerspruch zu Art. 267 AEUV. III. Begrenzung des Anwendungsvorrangs durch Schutz der Verfassungsidentität eines Mitgliedstaates Möglicherweise muss von diesen Grundsätzen aber eine Ausnahme gemacht werden, wenn die Verfassungsidentität eines Mitgliedstaats berührt ist und der EuGH - nach Ansicht eines nationalen Verfassungsgerichts - seine Zuständigkeiten überschritten hat. Jura Intensiv „[69] Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof zwar nach Art. 4 Abs. 2 EUV veranlasst sein kann, zu prüfen, ob eine unionsrechtliche Pflicht nicht der nationalen Identität eines Mitgliedstaats widerspricht. [70] Diese Bestimmung hat jedoch weder zum Ziel noch zur Folge, dass ein Verfassungsgericht eines Mitgliedstaats unter Missachtung der Verpflichtungen, die sich insbesondere aus Art. 4 Abs. 2 und 3 sowie Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergeben, die Anwendung einer Norm des Unionsrechts mit der Begründung ausschließen kann, dass diese Norm die von ihm definierte nationale Identität des betreffenden Mitgliedstaats missachte. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 04/2022 Öffentliches Recht 201 [71] Ist ein Verfassungsgericht eines Mitgliedstaats der Auffassung, dass eine Bestimmung des sekundären Unionsrechts in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof gegen die Verpflichtung verstoße, die nationale Identität dieses Mitgliedstaats zu achten, muss es das Verfahren aussetzen und dem Gerichtshof nach Art. 267 AEUV ein Ersuchen um Vorabentscheidung über die Gültigkeit dieser Bestimmung im Licht von Art. 4 Abs. 2 EUV vorlegen, da allein der Gerichtshof befugt ist, die Ungültigkeit einer Handlung der Union festzustellen. [72] Da der Gerichtshof […] die ausschließliche Zuständigkeit für die verbindliche Auslegung des Unionsrechts hat, kann das Verfassungsgericht eines Mitgliedstaats nicht auf der Grundlage seiner eigenen Auslegung unionsrechtlicher Bestimmungen […] wirksam entscheiden, dass der Gerichtshof ein Urteil erlassen habe, das über seinen Zuständigkeitsbereich hinausgehe, und es somit ablehnen, einem in einem Vorabentscheidungsverfahren ergangenen Urteil des Gerichtshofs nachzukommen.“ Somit verstößt die Rechtsprechung des rumänischen Verfassungsgerichtshofs gegen Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 i.V.m. Art. 4 Abs. 2, 3 EUV i.V.m. Art. 267 AEUV. FAZIT Das Urteil des EuGH zeigt sehr schön die Gewährleistung der richterlichen Unabhängigkeit und die dogmatische Verankerung des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts sowie die daraus resultierenden Konsequenzen auf. Der Gerichtshof tritt weiterhin strikt einer Ausnahme vom Anwendungsvorrang entgegen, die mit dem Schutz der nationalen Verfassungsidentität begründet werden soll, da er durch eine solche Ausnahme die einheitliche Anwendung und damit die Wirksamkeit des EU-Rechts gefährdet sieht. Spätestens seit der sog. PSPP-Entscheidung des BVerfG ist das hier dargestellte Problem brandaktuell und hoch examensrelevant, hat doch das BVerfG in seiner Entscheidung - ähnlich wie der rumänische Verfassungsgerichtshof - vertreten, es gebe Ausnahmen vom Anwendungsvorrang des EU-Rechts und von der Bindungswirkung von Entscheidungen des EuGH. Jura Intensiv Wie erfolgt dieser Schutz? Durch Vorlage an den EuGH gem. Art. 267 AEUV. Nationales Verfassungsgericht kann nicht wirksam einen Zuständigkeitsverstoß des EuGH feststellen. BVerfG, Urteil vom 5.5.2020, 2 BvR 859/15 u.a., RA-Telegramm 5/2020, 65 © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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