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RA Digital - 04/2023

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174 Zivilrecht

174 Zivilrecht RA 04/2023 Das Fluchtverhalten des W ist ein wesentlicher Grund für den Sturz. etwaigen Hundebissen o. ä., sondern allein auf dem (durch den Hund der Beklagten verursachten) Fluchtverhalten des Pferdes: Dieses ist – entsprechend seiner Natur als Fluchttier – vor dem treibenden Hund weggelaufen und im Rahmen seines Fluchtinstinkts über den Weidenzaun gesprungen und weiter weggelaufen, wobei es mehrfach gestürzt ist und sich dabei verletzt hat. Daraus folgt, dass die vom eigenen Tier ausgehende Gefahr grundsätzlich anspruchsmindernd anrechenbar ist. Abwägung: Welche Tiergefahr hat sich im konkreten Kausalverlauf stärker realisiert? Entscheidender Aspekt der Abwägung: Normalerweise entfliehen Pferde der Situation und beruhigen sich schnell. Vorliegend wurde das Pferd vom Hund anhaltend gehetzt. Dies erhöhte die Gefahr für das Pferd erheblich. Die Tiergefahr des Hundes überwiegt so deutlich, dass die Tiergefahr des Pferdes dahinter zurücktritt. [28] (…) Für die entsprechend § 254 Abs. 1 BGB vorzunehmende Abwägung der Verursachungsbeiträge der beiden Tierhalter kommt es sodann darauf an, mit welchem Gewicht konkret sich das in den Tieren jeweils verkörperte Gefahrenpotential in der Schädigung manifestiert hat (…). Hier kann nicht davon ausgegangen werden, dass keinerlei eigene Energie des W an dem Geschehen beteiligt war. [29] (…) Denn das Pferd „W.“ war bei der Schadensentstehung nicht lediglich rein passiv beteiligt, wie dies z. B. bei einem an der Leine geführten Hund der Fall wäre, der von einem freilaufenden Hund unvermittelt gebissen wird. Zwar hat sich das klägerische Pferd zunächst vollständig neutral verhalten, da es sich lediglich (gemeinsam mit einem anderen Pferd) auf der Pferdekoppel des Klägers aufgehalten hatte. Die Verletzungen des Pferdes beruhen jedoch – wie ausgeführt – nicht auf etwaigen Hundebissen, sondern darauf, dass sich das Pferd auf seiner Flucht vor dem Hund durch mehrfache Stürze verletzt hat. In dem auf dem Fluchtinstinkt des Pferdes beruhenden Davonlaufen hat sich dann aber die typische Tiergefahr eines Pferdes als Fluchttier adäquat mitursächlich ausgewirkt und ist daher zumindest grundsätzlich auch zu berücksichtigen (…). [31] Das Pferd „W.“ hat nicht bloß aufgrund eines Erschreckens gescheut und ist dann weggelaufen. Vielmehr wurde das Pferd von dem Hund der Beklagten zunächst über die Koppel und sodann – nachdem es über den Weidezaun gesprungen war – weiter auf der Straße bis in die nächste Ortschaft „auf das Äußerste“ getrieben. Die Hetzjagd dauerte dabei auch über einen längeren Zeitraum und über eine längere Strecke an (…). [32] Zwar ist es für ein Pferd typisch, dass es als Fluchttier vor Gefahren instinktiv wegläuft. Dieser Fluchtinstinkt hält aber in der Regel nur kurz – nämlich für die Dauer der wahrgenommenen Gefahr – an. Hier war das Pferd aber über eine längere Zeit und auf längerer Strecke allein aufgrund des treibenden Verhaltens des Hundes der Beklagten in Panik versetzt worden, was die entsprechende Flucht nicht nur veranlasst, sondern diese auch über einen längeren Zeitraum auf längerer Strecke aufrechterhalten und damit die Gefahr für das Pferd erheblich erhöht hat. Jura Intensiv Damit überwiegt hier die von dem Hund ausgehende Tiergefahr im konkreten Fall derart erheblich gegenüber der dem Pferd innewohnenden Tiergefahr als Fluchttier, dass eine Mithaftung des K und demzufolge eine Anrechnung der Tiergefahr des Pferdes W analog § 254 I BGB i.V.m. § 833 S. 1 BGB entfällt. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 04/2023 Zivilrecht 175 VI. Kausaler, ersatzfähiger Schaden K muss aufgrund der Tiergefahr ein ersatzfähiger Schaden entstanden sein. Als kausaler Schaden kommt als Herstellungsinteresse des K gem. §§ 90a S. 3, 249 II BGB der Geldbetrag in Betracht, der für die Heilbehandlung des Pferdes W seitens K an die Tierärzte gezahlt wurde. [22] Dem Kläger ist infolgedessen ein kausaler Schaden entstanden, der sich – der Höhe nach ebenfalls unstreitig – aus Heilbehandlungskosten in Höhe von 422,41 € für eine nottierärztliche Behandlung und aus Heilbehandlungskosten in Höhe von 14.379,15 € für eine stationäre Heilbehandlung nebst mehrfachen Operationen (...) zusammensetzt. Fraglich ist aber, ob dieser Schaden auch in der Höhe ersatzfähig ist. Problematisch ist dies insbesondere im Hinblick auf das Alter des Tieres von 24 Jahren und seinen Marktwert von nur noch 300,- €. Aus diesen Gründen könnte ein Schadensersatz in Höhe dieser Summe gem. § 251 II 1 BGB unverhältnismäßig sein. Jedoch ist bei der Heilbehandlung eines Tieres gem. § 251 II 2 BGB stets zu berücksichtigen, dass die aus der Heilbehandlung des Tieres entstandenen Aufwendungen nicht bereits dann unverhältnismäßig sind, wenn sie dessen Wert erheblich übersteigen. [37] Der Bundesgerichtshof hat hierzu im Jahr 2015 (...) ausgeführt: „(…). Ausgehend von der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf und schmerzempfindliches Lebewesen verbietet diese Vorschrift bei der Schadensbemessung eine streng wirtschaftliche Betrachtungsweise (…). Das bedeutet zwar nicht, dass eine Verpflichtung zum Schadensersatz in unbegrenzter Höhe besteht (…). Unter der Voraussetzung, dass eine Heilbehandlung tatsächlich durchgeführt wurde (…), verlangt § 251 Abs. 2 Satz 2 BGB aber, dass dem Interesse des Schädigers, nicht mit den Behandlungskosten belastet zu werden, bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht nur der Wert des Tiers gegenübergestellt wird, sondern auch das aus der Verantwortung für das Tier folgende immaterielle Interesse an der Wiederherstellung seiner Gesundheit und seiner körperlichen Integrität (…). So können bei Tieren mit einem geringen materiellen Wert Behandlungskosten auch dann ersatzfähig sein, wenn sie ein Vielfaches dieses Wertes ausmachen (…). Immer bedarf es einer wertenden Gesamtbetrachtung aller Umstände des konkreten Einzelfalls (…). Nach Auffassung des Gesetzgebers kommt es für die Bestimmung der Zumutbarkeitsgrenze auf das Maß des Verschuldens des Schädigers, das individuelle Verhältnis zwischen dem Geschädigten und dem verletzten Tier sowie darauf an, ob die aufgewendeten Heilbehandlungskosten aus tiermedizinischer Sicht vertretbar gewesen sind (…). Diese Aufzählung schließt weitere dem Normziel dienende Kriterien im Einzelfall nicht aus.“ [38] So kommen als weitere Kriterien die Erfolgsaussichten der Behandlung, das Alter des Tiers (…) und der vor der Pflichtverletzung vorliegende Gesundheitszustand des Tiers (…) in Betracht. Im Zusammenhang mit dem immateriellen Interesses des Halters des verletzten Tiers spielt auch eine Rolle, wie lange das Tier bereits in der Familie lebt (…). [42] Allerdings war das besondere Affektionsinteresse des Klägers an dem in seinem Eigentum stehenden Pferd „W.“ zu berücksichtigen. Nach dem Vortrag des Klägers und dem Ergebnis der Beweisaufnahme handelt es sich bei dem Pferd „W.“ um das erste vom Kläger erworbene Pferd, zu welchem Jura Intensiv Würde man die zu Autos entwickelten Grundsätze auf das Pferd W übertragen, hätte es einen „wirtschaftlichen Totalschaden“ erlitten. Damit wären die Heilbehandlungskosten im Sinne des § 251 BGB unverhältnismäßig, sodass das Pferd nicht hätte operiert werden dürfen. Es hätte eingeschläfert werden müssen und K hätte gem. § 251 II 1 BGB nur Wertersatz in Höhe von 300,- € erhalten. Doch hier liegt der zweite Schwerpunkt des Falles. § 251 II 2 BGB berücksichtigt die besondere Verantwortung des Menschen für seine Tiere. Autos empfinden keinen Schmerz, Pferde schon – die Verantwortung des Menschen verbietet deshalb eine Gleichbehandlung zwischen der Reparatur einer Sache und der Heilbehandlung eines Pferdes. Eine rein wirtschaftliche Betrachtung verbietet sich, geboten ist eine wertende Betrachtung im Einzelfall. Kriterium: Das Verhältnis zwischen Tier und Halter Kriterium: Die Vertretbarkeit der Behandlung aus tiermedizinischer Sicht Kriterium: Wie lange hält der Halter das Tier? © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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