194 Nebengebiete RA 04/2023 weil die Bekl. sie vor Ablauf der insoweit nach § 102 II 1, III BetrVG für die Anhörung geltenden Wochenfrist ausgesprochen hat, ohne dass bis dahin bereits eine abschließende und sich auf die ordentliche Kündigung beziehende Stellungnahme des Betriebsrats vorgelegen hätte. Auszug aus ArbG Duisburg, Urteil vom 08.04.2022, 5 Ca 1575/21: [57] Im Zeitpunkt des Ausspruches der ordentlichen Kündigung am 10.12.2021 war das Anhörungsverfahren zur ordentlichen Kündigung jedoch noch nicht abgeschlossen. [58] Nach § 102 II BetrVG hat der Betriebsrat, wenn er gegen eine ordentliche Kündigung Bedenken hat, diese unter Angabe der Gründe dem Arbeitgeber spätestens innerhalb einer Woche schriftlich mitzuteilen. [59] Diese Frist war im Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung noch nicht abgelaufen. [60] Der Betriebsrat hatte auch nicht durch die Stellungnahme vom 10.12.2021 abschließend zu der ordentlichen Kündigung Stellung genommen. [61] Zwar teilte der Betriebsrat inhaltlich mit, dass er eine Abmahnung als ausreichendes Mittel bezüglich des Pflichtverstoßes des Klägers ansieht, so dass es naheliegt, dass dieser Einwand auch bezüglich der ordentlichen Kündigung vorgebracht werden würde. [62] Der Auslegung als abschließende Stellungnahme steht jedoch der klare Wortlaut der Stellungnahme des Betriebsrates entgegen. So heißt es im Betreff „Anhörung zur außerordentlichen Kündigung von E.“. Auch heißt es „lehnt der Betriebsrat hiermit die außerordentliche Kündigung ab (…). Es wird demnach vom Wortlaut her ausdrücklich lediglich auf die fristlose Kündigung Bezug genommen. Dass daher eine weitere Stellungnahme des Betriebsrates noch denkbar ist, liegt auch deshalb nicht fern, da die Beklagte den Betriebsrat auch in zwei getrennten Schreiben zu den jeweiligen Kündigungen angehört hat. [64] Zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung lag mithin noch keine abschließende Stellungnahme des Betriebsrates zu der ordentlichen Kündigung vor. Die Kündigung ist also bereits mangels Ablaufes des Anhörungsverfahrens unwirksam. Die soziale Rechtfertigung der Kündigung kann dahinstehen. [54] Das hat bereits das ArbG zutreffend unter II. der Entscheidungsgründe festgestellt. Diese Erwägungen macht sich die Berufungskammer zu eigen und nimmt gem. § 69 II ArbGG hierauf zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen Bezug. Zum Berufungsvorbringen ist ergänzend lediglich noch folgendes auszuführen: [55] Eine vor Ablauf der Wochenfrist ausgesprochene Kündigung ist nach § 102 I 3 BetrVG unwirksam. Der Betriebsrat muss mit seiner Äußerung zwar nicht bis zum Fristablauf warten. Er kann bereits vor diesem Zeitpunkt zur mitgeteilten Kündigungsabsicht des Arbeitgebers abschließend Stellung nehmen. Das Beteiligungsverfahren ist mit Eingang einer solchen Äußerung vorzeitig beendet und der Arbeitgeber kann die Kündigung umgehend erklären (…). [56] Insoweit ist der Bekl. zuzustimmen. Das hat aber auch das ArbG schon nicht anders gesehen. Zu beachten ist nämlich, dass einer Äußerung des Betriebsrats während des Anhörungsverfahrens nach § 102 BetrVG nur fristverkürzende Wirkung zukommt, wenn ihr der Arbeitgeber unzweifelhaft entnehmen kann, dass es sich um eine abschließende Stellungnahme handelt. Erklärt der Betriebsrat dies nicht ausdrücklich, ist der Inhalt seiner Mitteilung durch Auslegung entsprechend §§ 133, 157 BGB zu ermitteln (BAG 25.5.2016 – 2 AZR 345/15, BAGE 155, 181 Rn. 24 = NZA 2016, 1140). Diese muss eindeutig ergeben, dass der Betriebsrat sich bis zum Ablauf der Anhörungsfrist nicht noch einmal – und sei es „nur“ zur Ergänzung der Begründung seiner bereits eröffneten Entschließung – äußern möchte (…). Der Arbeitgeber muss aufgrund der bisherigen Äußerung des Betriebsrats davon ausgehen können, dieser werde unter keinen Umständen mehr tun als bereits geschehen (…). [57] Für die Annahme einer vorfristig abgegebenen verfahrensbeendenden Äußerung bedarf es besonderer Anhaltspunkte. Dem Betriebsrat steht für die Mitteilung der Gründe, die aus seiner Sicht gegen die Verwirklichung des Kündigungsentschlusses sprechen, die gesamte Anhörungsfrist zur Verfügung. Die Möglichkeit zur Stellungnahme gegenüber dem Arbeitgeber ist dabei nicht auf eine einmalige Äußerung beschränkt. Ebenso wie der Arbeitgeber seine Angaben im Verfahren nach § 102 I 2 BetrVG während der Wochenfrist ergänzen darf, kann auch der Betriebsrat in diesem Zeitraum eine bereits abgegebene Stellungnahme jederzeit erweitern. Hierfür kann insbesondere Anlass bestehen, wenn sich der Kündigungssachverhalt oder dessen rechtliche Bewertung aus Sicht des Betriebsrats im Verlauf der Wochenfrist verändern. Dieser ist auch nicht gehalten, sich die Ergänzung einer bereits übermittelten Stellungnahme ausdrücklich vorzubehalten (BAG 25.5.2016 – 2 AZR 345/15, BAGE 155, 181 Rn. 25 = NZA 2016, 1140). [58] Besondere Anhaltspunkte für eine abschließende Stellungnahme liegen regelmäßig vor, wenn der Betriebsrat dem Arbeitgeber mitteilt, er stimme der beabsichtigten Kündigung ausdrücklich und vorbehaltlos zu oder erklärt, von einer Äußerung zur Kündigungsabsicht abzusehen. In anderen Fällen wird der Arbeitgeber nur von einer abschließenden Stellungnahme ausgehen können, wenn aus seiner Sicht eine weitere Äußerung des Betriebsrats zur Kündigungsabsicht ausgeschlossen ist. Jura Intensiv Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG
RA 04/2023 Nebengebiete 195 Dazu ist es nicht ausreichend, dass der Betriebsratsvorsitzende dem Arbeitgeber das Ergebnis der Beschlussfassung des Gremiums mitgeteilt hat. Dies schließt für sich allein genommen eine erneute Beschlussfassung des Betriebsrats oder eine Ergänzung der mitgeteilten Beschlussgründe durch den Vorsitzenden nicht aus (BAG 25.5.2016 – 2 AZR 345/15, BAGE 155, 181 = NZA 2016, 1140 Rn. 26). Fehlt es an sicheren Anhaltspunkten dafür, dass sich der Betriebsrat in keinem Fall mehr zur Kündigungsabsicht äußern wird, muss der Arbeitgeber, sofern er die Kündigung vor Ablauf der Wochenfrist erklären will, beim Betriebsratsvorsitzenden nachfragen und um entsprechende Klarstellung bitten. Auf dessen Erklärung darf er sich dann verlassen (BAG 25.5.2016 – 2 AZR 345/15, BAGE 155, 181 Rn. 27 = NZA 2016, 1140). [59] In Anwendung dieser Grundsätze ist hier festzustellen, dass nicht etwa eine möglicherweise noch nicht vollständige und abschließende Stellungnahme des Betriebsrats mit dem Schreiben vom 10.12.2021 zur ordentlichen Kündigung vorlag. Vielmehr lag überhaupt keine Stellungnahme des Betriebsrats zur ordentlichen Kündigung vor. [60] Das Schreiben bezieht sich schon im Betreff ausdrücklich allein auf die Anhörung zur außerordentlichen Kündigung des Kl. Die ebenfalls am 7.12.2021 eingegangene Anhörung zur ordentlichen Kündigung wird nicht erwähnt. Auch inhaltlich erklärt der Betriebsrat allein, die außerordentliche Kündigung abzulehnen. Zur ordentlichen Kündigung erfolgt keinerlei Stellungnahme. [61] Soweit die Bekl. aus der Begründung des Betriebsrats, die außerordentliche Kündigung abzulehnen, weil eine Abmahnung ausreichend gewesen sei, herleitet, damit sei zugleich zur ordentlichen Kündigung Stellung genommen worden – und das noch dazu ohne irgendeinen Anhaltspunkt im Wortlaut des Schreibens abschließend –, weil derselbe Grund auch einer ordentlichen Kündigung entgegenstehe, verlässt ihre Ansicht den Bereich der Auslegung und betritt den der Spekulation. Die Auslegung hat vom Wortlaut auszugehen und dieser gibt keinerlei Hinweis zu einer Stellungnahme zur ordentlichen Kündigung, sondern spricht ausdrücklich und allein von der außerordentlichen Kündigung. Dass gegen die außerordentliche Kündigung eingewandte Bedenken nicht nur deren Wirksamkeit berühren, sondern zugleich die der ordentlichen Kündigung, schließt gleichwohl nicht aus, dass der Betriebsrat zu jener Kündigung innerhalb der noch laufenden Stellungnahmefrist möglicherweise noch zusätzliche Bedenken mitteilt. Ebenso wenig ist für den Erklärungsempfänger erkennbar, dass zur ordentlichen Kündigung damit überhaupt schon eine Beschlussfassung des Gremiums erfolgt ist. Mitgeteilt wird allein eine solche am 10.12.2021, dem Datum des Ablaufs der insoweit relevanten Dreitagesfrist des § 102 II 3 BetrVG, zur außerordentlichen Kündigung. [62] Es lagen damit keinerlei sichere Anhaltspunkte für eine am 10.12.2021 erfolgte abschließende Stellungnahme auch zur ordentlichen Kündigung vor. Objektiv betrachtet lagen mit dem Schreiben ausschließlich sichere Anhaltspunkte für eine allein auf die außerordentliche Kündigung bezogene Stellungnahme vor. Selbst wenn die Bekl. dies hätte anders sehen wollen, wäre eine Nachfrage erforderlich gewesen, um sich zu vergewissern, dass keine weitere – objektiv betrachtet: schon keine erstmalige – Stellungnahme des Betriebsrats zur ordentlichen Kündigung beabsichtigt war. Wie sich der nachfolgenden Entwicklung entnehmen lässt, hätte die Bekl. dann Jura Intensiv Besonders wichtig ist der am Ende von Rn 61 folgende Hinweis, auf die Dreitagesfrist bei außerordentlichen Kündigungen. Nochmals zum zeitlichen Ablauf: 07.12.: Anhörung 10.12.: Stellungnahme zuraußerordentlichen Kü. letzter Tag der Frist, § 102 II 3 BetrVG 14.12.: Stellungnahme zur ordentlichen Kündigung letzter Tag der Frist, § 102 II 1 BetrVG So vor Augen geführt ist es schon ein unglaublich „dummer“ Fehler des Arbeitgebers, am 10.12. auch die hilfsweise ordentliche Kündigung ausgesprochen zu haben. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis
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