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RA Digital - 04/2023

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202 Öffentliches Recht

202 Öffentliches Recht RA 04/2023 Problem: Tweet der Polizei anlässlich eines Fußballspiels Einordnung: Polizeirecht / Grundrechte OVG Münster, Urteil vom 28.11.2022 5 A 2808/19 LEITSÄTZE (DER REDAKTION) 1. Ein polizeilicher Tweet, der ein Foto beinhaltet und mit einer negativen Wertung verbunden ist, kann einen mittelbar-faktischen Eingriff in das Grundrecht aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG darstellen. 2. Fraglich ist, ob ein solcher Grundrechtseingriff keiner ausdrücklichen Ermächtigungsgrundlage bedarf, sondern durch eine bloße Aufgabenzuweisungsnorm gerechtfertigt werden kann. Sollte dies möglich sein, muss das staatliche Informationshandeln dem Willkürverbot sowie dem Verhältnismäßigkeitsgebot genügen, was insbesondere bedeutet, dass Tatsachen zutreffend wiedergegeben werden und Werturteile nicht auf sachfremden Erwägungen beruhen sowie den sachlich gebotenen Rahmen nicht überschreiten (Richtigkeits- bzw. Sachlichkeitsgebot). Obersatz EINLEITUNG Staatliche Informationstätigkeit ist immer wieder Gegenstand juristischer Prüfungen. Das OVG Münster hatte konkret die Frage zu beantworten, ob und unter welchen Voraussetzungen auch Behörden unterhalb der Regierungsebene dazu berechtigt sind. SACHVERHALT Am 24.02.2017 fand in Duisburg ein Fußballspiel zwischen dem MSV Duisburg und dem 1. FC Magdeburg statt, das von der Polizei im Vorfeld als Risikospiel eingestuft wurde. Das Polizeipräsidium Duisburg veröffentlichte am 20.02.2017 einen „Fanbrief“, in dem u.a. über die beabsichtigte Trennung der Fanlager und das Verbot des Einsatzes von Pyrotechnik informiert wurde. Am Spieltag forderte der Anführer einer Fangruppe des 1. FC Magdeburg vor den polizeilich eingerichteten Kontrollschleusen am Gästeeingang die Gästefans per Megafon auf, mitgebrachte Regencapes anzuziehen. Damit solle im Stadion eine weiße Wand erzeugt werden, was in Verbindung mit einer großen Anzahl blauer Fahnen ein herrliches Bild abgeben werde. Der Einsatzleiter der Polizei vermutete aufgrund der Aufmachung der Capes (lang und nicht gesondert zu öffnen), der Einstufung des Spiels als Risikospiel und der fehlenden Anmeldung einer Choreografie im Vorfeld des Spiels, dass die Capes den Transport von verbotenen Gegenständen ins Stadion ermöglichen sollten. Er ließ daher den Gästeeingang zum Stadion verschließen, was zu einem Stau und teils aggressivem Verhalten der Gästefans führte. Daraufhin veröffentlichte die Polizei auf ihrem offiziellen Twitter-Account ein Foto, das etliche Fans mit Regencapes vor dem Gästeeingang des Stadions zeigte, verbunden mit folgendem Text: „#MSVFCM Stau am Gästeeingang, einige Fans haben sich Regencapes angezogen, um die Durchsuchung zu verhindern.“ Durch einen Klick auf das Bild konnte dieses auf den Endgeräten vergrößert dargestellt werden. Laut Polizei diente der Tweet dazu, die nachströmenden Fans über den Grund für die Stauung zu informieren und damit zur Abwendung einer Gefahrenlage. Die Klägerin hingegen ist der Meinung, sie sei auf dem Foto identifizierbar; zahlreiche Personen hätten sie auf den Tweet angesprochen und gefragt, warum sie eine Durchsuchung habe verhindern wollen und ob sie etwas zu verbergen hätte. Sie sieht sich deshalb in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG verletzt. Ist das der Fall? Jura Intensiv LÖSUNG Die Klägerin ist in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG verletzt, wenn die Veröffentlichung des Tweets einen Eingriff in dieses Grundrecht darstellt, der nicht gerechtfertigt ist. I. Eingriff in den Schutzbereich 1. Schutzbereich Der Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG muss eröffnet sein. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 04/2023 Öffentliches Recht 203 „[…] Dieses Grundrecht schützt nicht nur die Ehre, sondern auch weitere Aspekte des sozialen Geltungsanspruchs. Namentlich umfasst es den Schutz vor Äußerungen, die […] geeignet sind, sich abträglich auf das Ansehen des Einzelnen in der Öffentlichkeit auszuwirken. […] Derartige Äußerungen gefährden die von Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistete freie Entfaltung der Persönlichkeit, weil sie das Ansehen des Einzelnen schmälern, seine sozialen Kontakte schwächen und infolgedessen sein Selbstwertgefühl untergraben können. […] Der verfassungsrechtlich geschützte soziale Achtungs- und Geltungsanspruch wird […] entscheidend durch objektive Elemente geprägt, die ihm aufgrund seiner sozialen, auf einen Dialog angelegten Natur notwendig anhaften. Folglich kann eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts umso weniger festgestellt werden, je mehr die beanstandete Äußerung ein Bild des Betroffenen zeichnet, das sein tatsächliches Auftreten objektiv zutreffend widerspiegelt.“ Der umstrittene Tweet berührt den so umschriebenen sozialen Geltungsanspruch der Klägerin. Da das allgemeine Persönlichkeitsrecht ferner jeder Person unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit zusteht (sog. Jedermannsrecht), ist der Schutzbereich dieses Grundrechts eröffnet. 2. Eingriff Des Weiteren muss ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Klägerin vorliegen. Für einen klassischen Grundrechtseingriff fehlt es jedenfalls an der Auferlegung einer Rechtspflicht, die zwangsweise durchsetzbar ist. Ein mittelbarfinaler Eingriff scheitert daran, dass die Polizei nicht zielgerichtet nur die Klägerin aufgenommen hat, um deren Foto zu veröffentlichen, sondern lediglich die nachdrängenden Fußballfans über den Grund für die Stauung informieren wollte. Mithin kommt nur ein mittelbar-faktischer Grundrechtseingriff in Betracht. „Der Vorgang des Anziehens von Regencapes wird durch den Text final mit der nach dem Text von den Fans beabsichtigten Verhinderung einer Durchsuchung verknüpft. Diese Aussage beinhaltet zwar keinen Vorwurf strafbaren Verhaltens, bringt aber eine soziale Missbilligung des Vorgangs zum Ausdruck. Dabei ist die Aufgabe der Polizei, Verstöße gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu verhindern, die auch für den angesprochenen Rezipienten erkennbar ist, zu berücksichtigen. Die Durchsuchung […] erscheint mithin als (legitime) Maßnahme, deren Verhinderung wird hingegen als mit Recht und Gesetz nicht im Einklang stehend dargestellt, weil zum Beispiel etwas verborgen gehalten und unbemerkt in das Stadion gebracht werden soll. Dass im Rahmen des Fußballspiels mit dem Einsatz von Pyrotechnik zu rechnen war, ergibt sich dabei nicht nur aus dem (nichtöffentlichen) Protokoll der Organisationsbesprechung zur Sicherheit, sondern auch aus dem „besonderen Gefahrenhinweis zum Thema Pyrotechnik“ in dem „Fanbrief“ des Polizeipräsidiums Duisburg vom 20. Februar 2017. Diese Aussage wird in Bezug auf die betroffenen Fans dadurch verstärkt, dass sie sich nicht auf die objektive Feststellung beschränkt, dass durch dieses Verhalten die Durchsuchung verhindert wird, sondern indem durch die Verknüpfung der Satzteile gerade festgestellt wird, diese sei nicht nur Folge der Handlung, sondern gerade auch bezweckt. Jura Intensiv Sachlicher Schutzbereich: Schutz des Ansehens in der Öffentlichkeit Generell zum sachlichen Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts mit seinen vielfachen Einzelausprägungen: Schildheuer, JURA INTENSIV Skript Grundrechte, Rn 222 f. Persönlicher Schutzbereich Klassischer und mittelbar-finaler Grundrechtseingriff eindeutig (-), daher knappe Darstellung. Gute Erläuterung der unterschiedlichen Eingriffsarten bei Schildheuer, JURA INTENSIV Skript Grundrechte, Rn 97 ff. Mittelbar-faktischer Grundrechtseingriff (+) © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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