172 Zivilrecht RA 04/2023 Problem: Zurücktreten der Tiergefahr eines von einem Hund getriebenen Pferdes Einordnung: Deliktsrecht OLG Celle, Urteil vom 15.02.2023 20 U 36/20 LEITSATZ 1. Die von einem Hund ausgehende Tiergefahr, die sich darin zeigt, dass er ein Pferd über einen längeren Zeitraum und über eine längere Strecke vor sich hertreibt, überwiegt gegenüber der von dem getriebenen Pferd als Fluchttier innewohnende Tiergefahr derart, dass die Tiergefahr des Pferdes vollumfänglich zurücktritt und der Hundehalter für die bei der Flucht des Pferdes durch wiederholte Stürze entstandenen Schäden zu 100 Prozent haftet. 2. Auch bei einem nur geringen wirtschaftlichen Wert des verletzten Tiers sind die Heilbehandlungskosten in vollem Umfang ersatzfähig, wenn der Eigentümer des verletzten Tiers ein hohes Affektionsinteresse an dem seit vielen Jahren in seinem Eigentum stehenden Tier hat, der Gesundheitszustand und die Lebenserwartung des Tiers ohne das schädigende Ereignis gut war, die Erfolgsaussichten der Heilbehandlungsmaßnahmen aus ex ante-Sicht gegeben waren und die erfolgten Heilbehandlungsmaßnahmen und damit im Zusammenhang stehenden Kosten vertretbar waren. EINLEITUNG Der vorliegende Fall eignet sich aufgrund seiner ungewöhnlichen Sachverhaltsaspekte sehr gut als Teil einer Examensklausur zum Thema Tierhalterhaftung und Schadensrecht. Die Schwerpunkte liegen in der Abwägung der auf der jeweiligen Tiergefahr beruhenden Kausalbeiträge sowie in der Begründung der Ersatzfähigkeit des Schadens. SACHVERHALT Landwirt K ist Halter des Pferdes W. W stand an einem Sommertag mit einem zweiten Pferd auf einer mit einem Zaun umfriedeten Pferdekoppel. Das damals 24 Jahre alte Pferd W hatte am Tag des u.g. Vorfalls einen Verkehrswert von nur noch 300,- €, was dem Wert eines Beistellpferdes entspricht, das als Gesellschafter für andere Pferde zur Verfügung steht. Bei W handelt es sich um das erste Pferd des K, weshalb K zu W eine besonders intensive emotionale Bindung hat. Aus diesem Grund hat K sein Pferd stets besonders gepflegt, was sich im hervorragenden Gesundheitszustand des W zeigt. Aufgrund dieses Zustandes besteht trotz des fortgeschrittenen Alters noch eine mehrjährige Lebenserwartung. B ist Halterin eines zu privaten Zwecken als Haustier gehaltenen Hundes, der am Tag des Vorfalls einen großen blauen Plastikkragen (als Beißschutz) um den Hals trug. Der Hund lief auf die Pferdekoppel und versetzte dort W durch Gebell und schnelles Rennen so in Panik, dass W aus der Koppel ausbrach und weglief. Der Hund nahm unter lautem Gebell die Verfolgung auf und trieb W eine lange Strecke im Stile einer Hetzjagd vor sich her, sodass W infolgedessen schließlich stürzte und sich schwer verletzte. K ließ W nottierärztlich versorgen. Anschließend erfolgte eine Behandlung in einer Pferdeklinik, wo das Pferd mehrfach erfolgreich operiert wurde. K verlangt von W Schadensersatz in Höhe der Tierarztkosten von insgesamt 14.801,56 €. B verweist auf das Alter des Pferdes und meint, die Operation sei nicht angemessen gewesen. Hilfsweise meint sie, allenfalls die Hälfte zu schulden, weil die Tiergefahr des Pferdes anzurechnen sei. Auch falle ihr kein Verschulden zur Last. Zu Recht? Jura Intensiv LÖSUNG A. Anspruch des K gegen B auf Zahlung von 14.801,56 € aus § 833 S. 1 BGB K könnte gegen B einen Anspruch auf Zahlung von 14.801,56 € aus Tierhalterhaftung gem. § 833 S. 1 BGB haben. Dies setzt zunächst voraus, dass ein Rechtsgut des K durch den Hund der B verletzt wurde. § 90a S. 3 BGB I. Rechtsgutsverletzung Als geschütztes Rechtsgut führt § 833 S. 1 BGB fremde Sachen auf. W ist ein Tier, mithin gem. § 90 S. 1 BGB keine Sache, wird aber gem. § 90a S. 3 BGB vorliegend wie eine solche behandelt. Folglich wurde eine Sache des K beschädigt. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG
RA 04/2023 Zivilrecht 173 II. Halter eines Tieres B müsste Halter eines Tieres sein. Halter eines Tieres ist, wer über die Existenz des Tieres und den Kreis seiner Aktivitäten entscheiden kann. Dies ist bei B in Bezug auf ihren Hund der Fall. Definition des Tierhalters III. Realisierung der Tiergefahr im Kausalverlauf § 833 S. 1 BGB verlangt, dass das Rechtsgut „durch ein Tier“ des Halters verletzt wird. Folglich muss sich die tierspezifische Gefahr im Kausalverlauf realisiert haben. [21] Das Pferd „W.“ hat sich durch ein Verhalten des Hundes der Beklagten – hier das Treiben des Pferdes über die Koppel und anschließend bis in die nächste Ortschaft – schwer verletzt. Dies beruht auf der typischen Tiergefahr des Hundes, die sich hier in dem der tierischen Natur entsprechenden unberechenbaren und selbständigen Verhalten des Hundes aufgrund seines natürlichen Jagdtriebes manifestiert hat. (…) Folglich wurde W durch ein Tier der B verletzt. IV. Kein Ausschluss der Haftung gem. § 833 S. 2 BGB Die Halterhaftung des § 833 S. 1 BGB ist ein Fall der Gefährdungshaftung, welche grundsätzlich kein Verschulden des Halters erfordert. Unterfällt das Tier, welches das Rechtsgut verletzt hat, jedoch dem Kreis der in § 833 S. 2 BGB bezeichneten Tiere, ist eine Exkulpation des Tierhalters möglich. Dieses Privileg steht dem Tierhalter aber nur zu, wenn es sich bei diesem Tier zugleich um ein Haus- und Nutztier handelt. Der Hund der B ist ein Haustier. Fraglich ist, ob er zugleich ein Nutztier ist. Unter Nutztieren versteht man Haustiere, die dem Erwerb, dem Beruf oder dem Unterhalt des Halters dienen. Auch ein Hund kann dieser Kategorie unterfallen, z.B. der Jagdhund des Försters, der Lawinensuchhund der Bergwacht, der Drogenspürhund der Polizei oder auch der Blindenführhund. Vorliegend hält B ihren Hund zu rein ideellen Zwecken, weshalb das Exkulpationsprivileg des § 833 S. 2 BGB hier entfällt. Jura Intensiv V. Haftungsminderung analog § 254 I BGB i. V. m. § 833 S. 1 BGB Fraglich ist, ob sich die Tatsache, dass K ebenfalls verschuldensunabhängig für die Tiergefahr seines Pferdes einzustehen hat, analog § 254 I BGB i. V. m. § 833 S. 1 BGB anspruchsmindernd auswirkt. [24] Diese Vorschrift ist nicht nur dann anzuwenden, wenn ein fremdes und ein eigenes Tier zusammen einen Schaden an einem anderen Rechtsgut verursacht haben, sondern auch dann, wenn Tiere verschiedener Halter sich gegenseitig verletzen oder wenn – wie hier – eines der beiden Tiere verletzt wird und dabei die Tiergefahr des verletzten Tiers als mitverursachender Umstand mitgewirkt hat (…). [26] Eine typische Tiergefahr äußert sich nach ständiger Rechtsprechung in einem der tierischen Natur entsprechenden unberechenbaren und selbständigen Verhalten (…). An der Verwirklichung der Tiergefahr fehlt es insbesondere dann, wenn keinerlei eigene Energie des Tiers an dem Geschehen beteiligt ist (…) oder wenn das Tier lediglich der Leitung und dem Willen eines Menschen folgt (…). [27] Vorliegend ist davon auszugehen, dass sich die von dem klägerischen Pferd ausgehende Tiergefahr verwirklicht hat. Bei einem Pferd handelt es sich um ein Fluchttier. Die Verletzungen des Pferdes „W.“ beruhen nicht auf Typisch für alle Fälle der Gefährdungshaftung ist das Erfordernis, dass sich die jeweilige tatbestandsspezifische Gefahr im Kausalverlauf realisiert hat. Hier muss sich die Tiergefahr realisiert haben. Abgrenzung zu § 833 S. 2 BGB: Das Exkulpationsprivileg haben nur Halter von solchen Tieren, die zugleich Haus- und Nutztier sind. Definition des Nutztieres Hier liegt einer von zwei Schwerpunkten des Falles. Sehr lehrreich baut das Gericht die Abwägung Stück für Stück auf. Lies zur Abwägung zwischen Tiergefahr und Betriebsgefahr eines Autos: OLG Celle 14 U 19/22 = RA 01/2023, 9 ff. Charakterisierung der Tiergefahr © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis
RA 04/2023 Strafrecht 219 VI. Kein
RA 04/2023 Referendarteil: Strafrec
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