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RA Digital - 05/2016

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230 Zivilrecht

230 Zivilrecht RA 05/2016 Problem: Alleinhaftung eines Radfahrer bei Kollision nach Einfahren vom Radweg in die Fahrbahn Einordnung: Straßenverkehrsrecht OLG Hamm, Urteil vom 08.01.2016 I-9 U 125/15 LEITSÄTZE 1. Bei Verlassen des durch eine durchgehende weiße Linie von der Fahrbahn abgeteilten Radweges in Richtung Fahrbahn sind die erhöhten Sorgfaltspflichten des § 10 S. 1 StVO zu beachten. 2. Das Überqueren dieser Linie entgegen § 2 IV 2 StVO unter Missachtung der sich aus § 10 S. 1 StVO ergebenden Sorgfaltspflichten, um unmittelbar anschließend unter Missachtung der weiteren s ich aus § 9 I und IV StVO ergebenden Pflichten zwecks Linksabbiegens zur Straßenmitte zu lenken, rechtfertigt die Alleinhaftung des Radfahrers im Falle der Kollision mit dem nachfolgenden Verkehr. EINLEITUNG Wer ein Auto hält und in Betrieb setzt, gefährdet andere Verkehrsteilnehmer. Diese Betriebsgefahr ist der Grund der Halterhaftung. Wenn der Führer des Kfz einen Radfahrer anfährt, hat sich die vom Fahrzeug ausgehende und im Vergleich zu Radfahrern abstrakt höhere Betriebsgefahr realisiert. Sehr selten tritt diese vollständig hinter dem Verschulden eines Radfahrers zurück. Wann dies der Fall ist, zeigt der vom OLG Hamm entschiedene Fall sehr anschaulich. SACHVERHALT Am 10.10.2014 gegen 13:45 Uhr befährt der Kläger (K) mit seinem Pedelec den durch eine durchgehende Linie von der Fahrbahn der S-Straße abgetrennten kombinierten Geh- und Radweg (Anlage 2 zu § 41 I StVO, Zeichen 295 und 241) in Fahrtrichtung S1. An der Kreuzung mit der von rechts einmündenden M-Straße entschließt sich K nach links abzubiegen. Dazu überfährt er die durchgezogene Linie in Richtung Fahrbahnmitte. Unmittelbar vor der Kreuzung berührt die von hinten herannahende Beklagte (B) das Hinterrad des Pedelecs. K stürzt zu Boden und erleidet neben diffusen Prellungen eine Fraktur der linken Hüftpfanne sowie eine beiderseitige Sitzbeinfraktur. Nach seinem stationären Krankenhausaufenthalt verlangt K von B Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes. Dies verweigert B. K habe sein Pedelec unmittelbar vor ihr ohne Rückschau oder Handzeichen zur Fahrbahnmitte gelenkt. Sie habe dann zwar sofort eine Vollbremsung eingeleitet und ihren BMW nach links gelenkt, die Berührung des Hinterrads war jedoch unvermeidbar. Zu Recht? Jura Intensiv PRÜFUNGSSCHEMA A. Anspruch der K gegen B gem. § 7 I StVG I. Haltereigenschaft der B II. Rechtsgutverletzung III. „Bei Betrieb eines Kfz“ IV. Zurechnungszusammenhang V. Kein Ausschluss wegen höherer Gewalt nach § 7 II StVG VI. Rechtsfolge VII. Mitverschulden des K gem. § 9 StVG i.V.m. § 254 I BGB VIII. Ergebnis B. Anspruch der K gegen B gem. § 18 I StVG und § 823 I BGB LÖSUNG A. Anspruch der K gegen B gem. § 7 I StVG K könnte gegen B einen Anspruch auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes gem. §§ 7 I, 11 S. 2 StVG haben. Inhaltsverzeichnis

RA 05/2016 Zivilrecht 231 I. Haltereigenschaft der B Dazu müsste B zunächst Halterin des Fahrzeugs gewesen sein. Halter ist, wer das Kfz für eigene Rechnung gebraucht und die für den Gebrauch erforderliche Verfügungsgewalt über das Fahrzeug hat. Indem B angab, es handele sich um „ihren BMW“, ist von ihrer Haltereigenschaft auszugehen. II. Rechtsgutverletzung K erlitt Prellungen, eine Fraktur der linken Hüftpfanne sowie eine beiderseitige Sitzbeinfraktur und wurde somit an Körper und Gesundheit verletzt. Eine Rechtsgutverletzung i.S.d. § 7 I StVG liegt vor. Definition des Halters eines KfZ III. „Bei Betrieb des Kfz“ Weiterhin müsste die Rechtsgutverletzung auch beim Betrieb des Fahrzeuges ereignet haben. Nach dem Sinn und Zweck der Gefährdungshaftung des § 7 I StVG sollen alle Gefahren erfasst werden, die sich typischerweise aus dem öffentlichen Verkehr ergeben. Dazu gehört nach der heute vertretenen verkehrstechnischen Auffassung jede Teilnahme am ruhenden oder fließenden Verkehr. Durch die Fahrt mit dem BMW lag somit ein Betrieb i.S.v. § 7 I StVG vor. IV. Zurechnungszusammenhang Die Betriebsgefahr muss sich im äquivalent-kausalen Geschehensablauf in der Rechtsgutsverletzung verwirklicht haben. K erlitt die Verletzungen im Zusammenhang mit dem Betrieb des BMW im Straßenverkehr. V. Kein Ausschluss wegen höherer Gewalt nach § 7 II StVG Die Haftung der B dürfte nicht gem. § 7 II StVG wegen höherer Gewalt ausgeschlossen sein. Höhere Gewalt liegt vor, wenn der Unfall durch ein von außen kommendes und keinen verkehrstechnischen Zusammenhang aufweisendes, nicht vorhersehbares und durch äußerste vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht abwendbares Ereignis verursacht wurde. Indem der Unfall sich zwischen zwei Verkehrsteilnehmern ereignet hat, war das Ereignis nicht verkehrsfremd und mithin keine höhere Gewalt. Jura Intensiv VI. Rechtsfolge Damit kann K wegen der erlittenen Körper- und Gesundheitsverletzung gem. § 11 S. 2 StVG von B Schmerzensgeld fordern. VII. Mitverschulden des K gem. § 9 StVG i.V.m. § 254 I BGB Es wäre ein Mitverschulden des K gem. § 9 StVG i.V.m. § 254 I BGB zu berücksichtigen, wenn er die Sorgfalt außer Acht gelassen hat, die ein verständiger Mensch beachten muss, um sich vor vorhersehbaren und vermeidbaren Schäden zu schützen. „[17] Gem. § 10 S. 1 StVO darf ein Verkehrsteilnehmer von anderen Straßenteilen auf die Straße, also auf die Fahrbahn nur einfahren, wenn die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Das Verlassen des Radwegs entspricht dem Verlassen eines derartigen Straßenteils mit der Folge, dass § 10 StVO zu beachten ist. Das Einbiegen ist besonders gefährlich, weil es die anderen Verkehrsteilnehmer oft überrascht. Ist ein Radweg vorhanden, dann darf sich ein Kraftfahrer darauf einrichten, dass der Radfahrer nur an einleuchtenden Stellen den Radweg verlassen wird, also nicht zuvor den Kraftfahrer gefährdet. Nur dann, wenn kein Radweg vorhanden ist, muss ein Kraftfahrer dagegen von vornherein darauf achten, Die früher vertretene sog. maschinentechnische Auffassung, nach der ein Betrieb nur dann vorliegt, wenn das KfZ durch den Motor bewegt wird, kommt hier zu keinem anderen Ergebnis. Bei Gefährdungshaftungstatbeständen muss sich die tatbestandsspezifische Gefahr kausal realisieren. Auf die Adäquanz des Kausalverlaufs kommt es nicht an, weil diese Tatbestände gerade nicht den Vorwurf der Vorhersehbarkeit erheben. § 9 StVG ist eine Sonderregelung, die ausschließlich auf die Fälle der §§ 7 und 18 StVG anwendbar ist. Sie gilt nicht innerhalb der §§ 823 ff. BGB. Dort findet § 254 BGB Anwendung. § 9 StVG greift nicht, wenn der Geschädigte selbst als Halter oder Fahrer eines Kraftfahrzeugs am Unfall beteiligt ist. In diesen Fällen gelten neben § 8 StVG nur § 17 II, III StVG, bzw. bei Schädigung Dritter § 17 I StVG. Inhaltsverzeichnis

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