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RA Digital - 05/2019

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266 Aufsatz zum

266 Aufsatz zum Strafrecht (Teil 2) RA 05/2019 bei dem zusätzlich zu dem Wertungsirrtum noch ein Sachverhaltsirrtum im Sinne der irrigen Annahme rechtfertigender Umstände hinzukommt, die täterfreundliche Vorschrift des § 16 I StGB anzuwenden. Unter Bezugnahme auf die obigen Beispiele bedeutet dies: T kann in Beispiel 3, wo er sogar schon über den Angriff auf sein Eigentum irrt, nicht besser stehen als in Beispiel 1, wo jedenfalls der Angriff gegeben ist und er sich ausschließlich auf Wertungsebene irrt. Der zusätzliche Sachverhaltsirrtum im Fall des Doppelirrtums kann den Täter nicht privilegieren. 21 Über diese Regel hinaus ist generell darauf zu achten, dass jeder zusätzliche Irrtum des Täters zu einer Steigerung des Unrechts führt, weil sich der Täter mit jedem Irrtum weiter von der tatsächlichen Rechtfertigung entfernt. Das hat zur Konsequenz, dass der Täter, der sich im Doppelirrtum befindet, weder gegenüber einem Täter, der sich nur im Erlaubnistatbestandsirrtum befindet, noch gegenüber einem Täter, der sich nur im Erlaubnisirrtum befindet, privilegiert werden darf. 22 Dies führt nun zu der entscheidenden Frage: Worauf bezieht sich beim Doppelirrtum die Prüfung der Vermeidbarkeit? Insoweit sind die folgenden vier Fallgruppen zu unterscheiden. 1. Sachverhaltsirrtum und Wertungsirrtum vermeidbar Beispiel 6: In der Faschingszeit betritt der als Bankräuber maskierte Faschingsnarr F einen Geschäftsraum. Ausländer A, der in Deutschland zu Besuch ist, glaubt irrig, dass F im Begriff sei, einen Überfall zu begehen, greift sofort zur Waffe und erschießt F. Zuvor hatte er bei einem Faschingsumzug bereits viele maskierte Personen in der Innenstadt gesehen. Im Heimatland des A ist in einem derartigen Fall der sofort tödlich wirkende Einsatz der Schusswaffe – ebenso wie in Deutschland – nicht zulässig. Schon aus der Vermeidbarkeit des Wertungsirrtums ergibt sich, dass sich der Täter aus dem Vorsatzdelikt heraus strafbar gemacht hat und seine Schuld nicht entfällt. Auf die („zusätzliche“) Vermeidbarkeit des Sachverhaltsirrtums kommt es insoweit nicht mehr an. Sie wäre auch nicht in der Lage, an der Vorsatzstrafe etwas zu ändern, da der Täter schon beim bloßen Erlaubnisgrenzirrtum aus der Vorsatztat zu bestrafen wäre. Eine aus dem vermeidbaren Sachverhaltsirrtum abgeleitete Strafbarkeit wegen Fahrlässigkeit wäre hinter der Vorsatztat offensichtlich subsidiär und würde deshalb im Gutachten ungeprüft bleiben. 23 Jura Intensiv 2. Sachverhaltsirrtum und Wertungsirrtum unvermeidbar Beispiel 7: Der sich erst seit kurzer Zeit in Deutschland aufhaltende Ausländer A, dem eine Abschiebung droht, hält die das Grundstück seines Bruders betretenden und nicht uniformierten Polizisten für Rechtsradikale, die ihn verprügeln wollen. Auf mehrere Zurufe geben diese sich nicht als Polizisten zu erkennen. Durch das Fenster erschießt er die noch ca. 2 m von seinem Haus entfernten Polizeibeamten ohne vorherige Androhung des Schusswaffeneinsatzes und ohne Warnschuss. In seinem Heimatland wäre der Schuss tatsächlich gerechtfertigt gewesen, weshalb er auch in dieser Situation von einer Rechtfertigung ausgeht. Hält man diesen Fall hinsichtlich des Sachverhaltsirrtums für hinreichend mit dem Sachverhalt der oben genannten „Hell´s Angels-Entscheidung“ des BGH vergleichbar, könnte man von einer Unvermeidbarkeit des Sachverhaltsirrtums ausgehen. 21 S/S-Cramer/Sternberg-Lieben, StGB, § 16, Rn 19; Heinrich, AT, Rn 1151; Jäger, AT, Rn. 219; Schweinberger, JI-Skript StrafR AT I, Rn 826, 855; Geppert, JURA 2007, 33, 40; Kudlich, JuS 2003, 243, 245, Fn 22 22 Schuster, JuS 2007, 617, 619 23 So auch BGH, NStZ 1989, 176, 176, im sog. „Katzenkönig-Fall“, wo der BGH alleine auf die Vermeidbarkeit der Vorstelle abstellte, Leben gegen Leben abwägen zu dürfen und nicht auf die Frage, ob der Glaube an den „Katzenkönig“ an sich vermeidbar war. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 05/2019 Aufsatz zum Strafrecht (Teil 2) 267 Auch bezüglich des Wertungsirrtums ist Unvermeidbarkeit gegeben, da A nicht erkennen konnte, dass ein Rechtfertigungsgrund zu seinen Gunsten nicht eingreift. 24 Die Strafbarkeit aus dem Vorsatzdelikt entfällt wegen der Unvermeidbarkeit des Wertungsirrtums. Eine Strafbarkeit aus dem Fahrlässigkeitsdelikt scheidet ebenfalls aus, da wegen der Unvermeidbarkeit auch des Sachverhaltsirrtums kein Sorgfaltspflichtverstoß gegeben ist. Würde man die Vermeidbarkeitsprüfung im Rahmen des § 17 StGB – zu Unrecht 25 – (auch) auf den Sachverhaltsirrtum beziehen, würde sich nichts anderes ergeben. Ein weiterer unvermeidbarer Irrtum kann den Täter nicht schlechter stellen. Somit würde A in Beispiel 7 straflos bleiben. 26 3. Sachverhaltsirrtum unvermeidbar und Wertungsirrtum vermeidbar Beispiel 8: Wie Beispiel 7, nur diesmal ist der Schütze deutscher Staatsbürger, der an einen Überfall durch einen rechtsradikalen Schlägertrupp glaubt, und es fehlt jeglicher Anhaltspunkt, warum der Wertungsirrtum für ihn unvermeidbar gewesen sein könnte. Schon aus der Vermeidbarkeit des Wertungsirrtums ergibt sich, dass sich der Täter aus dem Vorsatzdelikt strafbar gemacht hat und seine Schuld nicht entfällt. Dass der Sachverhaltsirrtum für den Täter unvermeidbar war, kann daran nichts ändern. Das zeigt der Vergleich mit dem Fall des Erlaubnisirrtums. Wenn der Täter dort, obwohl er auf der Ebene des Sachverhalts gar nicht irrt, also z.B. tatsächlich ein Angriff i.S.d. § 32 StGB vorliegt, nach der „härteren“ Irrtumsregel des § 17 StGB behandelt wird, kann ihn der zusätzliche Sachverhaltsirrtum, selbst wenn er unvermeidbar war, nicht privilegieren. Der Fahrlässigkeitstatbestand bleibt wegen der vorrangigen Vorsatztat ungeprüft. 4. Sachverhaltsirrtum vermeidbar und Wertungsirrtum unvermeidbar Beispiel 9 nach Schuster 27 : In der Faschingszeit betritt der als Bankräuber maskierte Faschingsnarr F einen Geschäftsraum. Ausländer A, der in Deutschland zu Besuch ist und aus einem Land stammt nach dessen Rechtsordnung der sofortige tödliche Schusswaffeneinsatz bei Verletzung des Hausrechts gerechtfertigt ist, glaubt irrig, dass F im Begriff sei, einen Überfall zu begehen, greift sofort zur Waffe und erschießt F. Zuvor hatte er bei einem Faschingsumzug bereits viele maskierte Personen in der Innenstadt gesehen. Jura Intensiv Diese Konstellation stellt den eigentlichen „Problemfall“ dar. Im Raum steht die Frage, ob allein die Vermeidbarkeit des Sachverhaltsirrtums eine Bestrafung aus vorsätzlich begangenem Delikt rechtfertigen kann. Nach Schuster – der diese Frage selbst verneint und für eine Fahrlässigkeitstat plädiert – sei die Annahme einer Vorsatzstrafbarkeit in diesem Fall jedoch „sehr gut vertretbar“. 28 Dem ist entschieden zu widersprechen. Die obige Darstellung hat gezeigt: Wenn der Täter auf der Rechtfertigungsebene ausschließlich einem Sachverhaltsirrtum gem. § 16 I StGB (direkt oder analog) unterliegt, so ist die Folge der Vermeidbarkeit des Irrtums allenfalls eine bloße Fahrlässigkeitsstrafe (§ 16 I 2 StGB). Dem „an sich rechtstreuen Täter“ wird beim (vermeidbaren) Erlaubnistatbestandsirrtum nur der Vorwurf gemacht, „nicht richtig hingeschaut“ zu haben. Wenn der Täter hingegen einem Wertungsirrtum gem. § 17 StGB unterliegt, so ist die Rechtsfolge bei Vermeidbarkeit des Erlaubnisirrtums die Vorsatzstrafe. 24 Die Bewertung als unvermeidbar soll hier unterstellt und nicht näher untersucht werden. 25 Hierzu sogleich. 26 Ein eventueller Verstoß gegen das Waffengesetz tut im vorliegenden Problemkontext nichts zur Sache. 27 Schuster, JuS 2007, 617, 617 28 Schuster, JuS 2007, 617, 621 © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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