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RA Digital - 06/2020

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312 Öffentliches Recht

312 Öffentliches Recht RA 06/2020 Dies kommt einer – überholten – Bevormundung der Beschwerdeführerin gleich, weil es voraussetzt, dass diese die Kontrolle über ihre persönliche Sphäre (zeitweise) aufgibt.“ Folglich liegt eine Benachteiligung der B wegen ihrer Behinderung vor. Strenge Anforderungen, da Art. 3 III 2 GG eine Benachteiligung wegen einer Behinderung grds. verbietet. III. Rechtfertigung der Benachteiligung Die Benachteiligung der B könnte gerechtfertigt sein. Das setzt einen zwingenden sachlichen Grund sowie die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips voraus. 1. Zwingender sachlicher Grund Bereits zwingender sachlicher Grund (-) Auch das „Makelargument“ verfängt nicht „[43] […] Das Kammergericht hält die Benachteiligung der Beschwerdeführerin für sachlich begründet, weil die Ärzte „hygienische Gründe“ geltend gemacht haben. Dabei differenziert es nicht zwischen dem generellen Verbot des Mitbringens von Tieren in die Praxis und dessen Anwendung auf die Beschwerdeführerin und deren Blindenführhündin. Es ist bereits zweifelhaft, ob hygienische Gründe, die gegen das Mitbringen von Tieren in eine Arztpraxis angeführt werden mögen, mit Blick auf das – gelegentliche – Mitführen eines Blindenführhundes einen sachgerechten Grund für das Durchgangsverbot darstellen können. Zwar geht das Kammergericht selbst davon aus, dass eine Infektionsgefahr zu vernachlässigen sei. Dennoch nimmt es an, auch ein gepflegter Hund könne die Sauberkeit der Praxisräume beeinträchtigen, sei es durch Schmutz oder Feuchtigkeit, Haarverlust oder Parasitenbefall. Dabei lässt es außer Acht, dass es sich bei dem Raum, den die Beschwerdeführerin durchqueren muss, um einen Wartebereich handelt, den Menschen mit Straßenschuhen und in Straßenkleidung betreten oder unter Umständen in einem Rollstuhl aufsuchen müssen. Deshalb ist es eher fernliegend, davon auszugehen, dass der Führhund der Beschwerdeführerin beim gelegentlichen Durchqueren des Warteraums zu einer nennenswerten Beeinträchtigung der hygienischen Verhältnisse in der Praxis führen könnte. Jura Intensiv [44] Soweit das Gericht darauf abstellt, dass ein berechtigtes Ziel einer ärztlichen Praxis bereits darin bestehe, gegenüber ihren Patienten den Eindruck nicht uneingeschränkt reinlicher und auf deren körperliches Wohlbefinden ausgerichteter Zustände zu vermeiden, beziehungsweise dass es legitim sei, dass die Ärzte ihre Praxis keinem „Makel“ aussetzen wollten, vermag diese Überlegung möglicherweise ebenfalls ein generelles Mitnahmeverbot von Tieren in die Praxis zu begründen. Da aber die Beschwerdeführerin – für alle anderen Patienten sichtbar – beim Durchqueren des Warteraums auf ihren Führhund angewiesen ist, ist schon nicht nachvollziehbar, inwieweit die Praxis durch das Zulassen dieser Handlung in den Verdacht unreinlicher Verhältnisse oder eines „Makels“ geraten könnte.“ Mithin fehlt es schon an einem zwingenden sachlichen Grund, um die Benachteiligung rechtfertigen zu können. 2. Verhältnismäßigkeitsprinzip Darüber hinaus könnte auch eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsprinzips vorliegen. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 06/2020 Öffentliches Recht 313 „[46] Das Durchgangsverbot ist bereits nicht erforderlich, um einer […] Infektionsgefahr in der Orthopädiepraxis vorzubeugen. Das Kammergericht verkennt, dass […] sowohl das Robert Koch-Institut als auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft davon ausgehen, dass aus hygienischer Sicht in der Regel keine Einwände gegen die Mitnahme von Blindenführhunden in Praxen und Krankenhausräume bestehen. […] Erforderlichkeit (-) [47] Bei der Prüfung der Angemessenheit des Durchgangsverbots sind die auf Seiten der Ärzte betroffenen Interessen – die Berufsausübungsfreiheit und die allgemeine Handlungsfreiheit in Form der Privatautonomie – gegen das in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG geschützte Recht der Beschwerdeführerin […] gegeneinander abzuwägen. Während die wirtschaftlichen Interessen der […] Ärzte bei einer Duldung des Durchquerens der Praxis mit Führhund schon wegen der kurzen Dauer von dessen Anwesenheit, wenn überhaupt, dann lediglich in geringem Maße beeinträchtigt werden, bringt das Durchgangsverbot erhebliche Nachteile für die Beschwerdeführerin. Das Verbot macht es ihr unmöglich, sich, wie jede nicht behinderte Person auch, selbständig und ohne fremde Hilfe in die von ihr bevorzugte Physiotherapiepraxis zu gelangen und sich dort behandeln zu lassen. […] Das Benachteiligungsverbot untersagt es, behinderte Menschen von Betätigungen auszuschließen, die nicht Behinderten offenstehen, wenn nicht zwingende Gründe für einen solchen Ausschluss vorliegen. Dieser Auslegung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG liegt das auch in Art. 1 und Art. 3 Buchstabe a und c BRK zum Ausdruck kommende Ziel zugrunde, die individuelle Autonomie […] sowie die Unabhängigkeit von Menschen mit Behinderungen zu achten und ihnen die volle und wirksame Teilhabe an der und die Einbeziehung in die Gesellschaft zu gewährleisten. Mit diesem Ziel […] ist es nicht vereinbar, die Beschwerdeführerin darauf zu verweisen, ihren Führhund vor der Praxis anzuketten und sich von der Hilfe ihr fremder oder wenig bekannter Personen abhängig zu machen. Deshalb müssen die Interessen der Ärzte hinter dem Recht der Beschwerdeführerin aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zurückstehen. Das Durchgangsverbot ist unverhältnismäßig und benachteiligt die Beschwerdeführerin in verfassungswidriger Weise.“ Folglich ist B in ihrem Grundrecht aus Art. 3 III 2 GG verletzt. Jura Intensiv FAZIT Der Beschluss reiht sich ein in die Reihe wichtiger Entscheidungen, die das BVerfG in der jüngeren Vergangenheit zur Ausstrahlungswirkung des Art. 3 GG in das Zivilrecht getroffen hat und die teilweise bereits Gegenstand von Examensklausuren waren. Besonders bedeutsam an der Entscheidung ist die Betonung des durch Art. 3 III 2 GG verursachten Paradigmenwechsels, der dazu führt, dass behinderte Menschen möglichst genauso am Leben teilnehmen sollen wie nicht behinderte Menschen. Folglich können sie auch nicht einfach auf Hilfsmittel oder Betreuer verwiesen werden, um Benachteiligungen auszugleichen. Die mit Art. 3 III 2 GG verbundene Wertung ist auch der Grund, warum das BVerfG ohne Diskussion das Verhältnismäßigkeitsprinzip zur Anwendung bringt, obwohl ein Gleichheitsrecht betroffen ist, und dieses wie bei einem staatlichen Handeln prüft, obwohl ein Zivilrechtsstreit zugrunde liegt; die mittelbare Drittwirkung des Art. 3 III 2 GG führt hier also zu einer engen Bindung an das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Angemessenheit ebenfalls (-) Hier wird der Paradigmenwechsel durch Art. 3 III 2 GG sehr deutlich. An dieser Stelle im Prüfungsaufbau erfolgt die Einbindung des Völkerrechts. Vgl. BVerfG, RA 2018, 369 (Stadionverbot, geprüft in NRW und Hessen, 1. Examen, Termin Juni 2019, 2. Klausur) und RA 2019, 641 (Hausverbot für NPD-Vorsitzenden) Vgl. dazu Schildheuer, JURA INTENSIV Skript Grundrechte, Rn 879 Vgl. dazu die o.g. Stadion- und Hausverbot-Entscheidung des BVerfG © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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