Aufrufe
vor 1 Jahr

RA Digital - 06/2022

  • Text
  • Verlagjuraintensivde
  • Stvo
  • Recht
  • Stgb
  • Anspruch
  • Ifsg
  • Urteil
  • Verlags
  • Inhaltsverzeichnis
  • Jura
  • Intensiv
Die Ausbildungszeitschrift von Jura Intensiv.

302 Referendarteil:

302 Referendarteil: Zivilrecht RA 06/2022 Problem: „Anderer Verkehrsteilnehmer“ in § 7 V 1 StVO Einordnung: Verkehrsrecht LEITSÄTZE 1. Grundsätzlich sind „andere Verkehrsteilnehmer“ im Sinne der StVO sämtliche Personen, die sich selbst verkehrserheblich verhalten, das heißt körperlich und unmittelbar auf den Ablauf eines Verkehrsvorgangs einwirken. 2. Im Rahmen des § 7 V 1 StVO ist „anderer Verkehrsteilnehmer“ nur ein Teilnehmer des fließenden Verkehrs, also nicht der vom Fahrbahnrand An- und in den fließenden Verkehr Einfahrende. Das Unstreitige wird im Indikativ Imperfekt dargestellt. Ausnahmen – insbesondere hier – sind Umstände, die sich auf die Gegenwart beziehen. Insbesondere bei Verkehrsunfällen sollte der Tatbestand chronologisch abgefasst werden, damit der Ablauf verständlich bleibt. Sind wesentliche Aspekte streitig, deren Nichterwähnung den Tatbestand unverständlich werden lassen würden, sollten diese ausgeführt und ausdrücklich streitig gestellt werden. Fragen Sie hierzu Ihre Ausbilder. Achtung: Die gesamtschuldnerische Haftung der Kfz-Haftpflicht-versicherung ist eine Ausnahme! Versicherer eines Schuldners sind grundsätzlich nicht Schuldner! Lesen Sie § 115 VVG. Hier besteht der Direktanspruch gem. § 115 I 1 Nr. 1 VVG i. V. m. § 1 S. 1 PflVG. Der streitige Beklagtenvortrag wird – wie der des Klägers – im Präsens und indirekter Rede dar-gestellt. Trennen Sie hier eben-falls – sofern beides vorgetragen wird – zwischen Tatsachenbehauptungen und Rechtsansichten. BGH, Urteil vom 08.03.2022 VI ZR 1308/20 EINLEITUNG Im Jahr 2020 ereigneten sich in Deutschland über 2,2 Mio. Verkehrsunfälle. Die Relevanz für die juristische Praxis ist daher offenkundig. Von daher ist es insbesondere interessant, wenn hier Rechtsfragen zum BGH gelangen. Hier stellte sich die Frage, ob im Rahmen der Mitverschuldensprüfung gem. § 17 StVG ein Verstoß gegen § 7 V 1 StVO zu berücksichtigen ist. Es stießen zwei Fahrzeuge zusammen, eines fuhr gerade aus einer Parkbucht in den fließenden Verkehr, der andere Teilnehmer wechselte von der linken zur rechten Spur. Die Entscheidung wird als erstinstanzliches Urteil dargestellt. TATBESTAND Die Klägerin (K) ist Halterin eines Transporters Opel Vivaro, der am 25.09.2018 in einer längs zur Fahrbahn angeordneten Parkbucht auf der rechten Seite der in Fahrtrichtung zweispurigen D. Straße in S. abgestellt war. Die Beklagte zu 1 (B1) vollzog mit ihrem bei der Beklagten zu 2 (B2) haftpflichtversicherten Pkw einen Wechsel vom linken auf den rechten Fahrstreifen. Als dies zu mehr als der Hälfte vollzogen war, stieß sie mit dem ausparkenden Fahrzeug der K zusammen. Das Klägerfahrzeug ragte zum Zeitpunkt der Kollision mit der linken Front in den rechten Fahrstreifen der D. Straße hinein und bewegte sich nach vorne. Mit Schreiben vom (…) forderte K die Beklagten erfolglos zur Zahlung in Höhe der Reparaturkosten auf, wobei die Summe einer Haftungsquote von 50 % entsprach. K vertritt die Rechtsauffassung, es sei von einer hälftigen Schadensteilung auszugehen, da auf Seiten der K ein Verstoß gegen § 10 S. 1 StVO und auf Seiten der B1 ein Verstoß gegen § 7 V StVO bei gleichwertiger Betriebsgefahr vorliege. Jura Intensiv K beantragt, die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen, an die Klägerin (…) € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 26.09.2018 zu zahlen sowie die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen, an die Klägerin vorgerichtliche Rechtsverfolgungskosten in Höhe von (…) € zu zahlen. B beantragt, die Klage abzuweisen. B1 vertritt die Rechtsauffassung, den Unfall – rechtlich – nicht mitverschuldet zu haben. ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der K steht gegen die B1 und B2 als Gesamtschuldner ein Schadensersatzanspruch gemäß § 7 I StVG i. V. m. § 115 I S. 1 Nr. 1 VVG nicht zu. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 06/2022 Referendarteil: Zivilrecht 303 Für die Haftungsverteilung im Sinne des § 17 I, II StVG ist maßgeblich, wessen Betriebsgefahr sich im Kausalverlauf stärker realisiert hat. Hierfür ist der Umfang der Verursachung von Belang, somit die Frage, in welchem Maß die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen und diese verschuldet haben. [8] (…) Ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden. (…). Zutreffend ist, dass klägerseitig als Fahrzeugführer ein schuldhafter Verstoß gegen § 10 S. 1 Var. 3 StVO vorliegt, denn auf der Straße fahrende Fahrzeuge haben gegenüber dem vom rechten Fahrbahnrand an- und in die Straße einfahrenden Verkehr Vorrang. [9] (…) Der Einfahrende hat sich darauf einzustellen, dass der ihm gegenüber vorrangig Berechtigte in diesem Sinne von seinem Recht Gebrauch macht. (…). Der Einfahrende kann nicht darauf vertrauen, dass die rechte Fahrspur frei bleibt. Vielmehr muss er stets mit einem Fahrstreifenwechsel eines Teilnehmers des fließenden Verkehrs rechnen. Unzutreffend ist die Rechtsauffassung der K, B1 träfe ein Mitverschulden aufgrund eines Verstoßes gegen § 7 V 1 StVO. Hiernach darf ein Fahrstreifen nur gewechselt werden, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Die Norm dient allerdings lediglich dem Schutz des fließenden Verkehrs. [12] Nach § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO darf ein Fahrstreifen nur gewechselt werden, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. „Anderer Verkehrsteilnehmer“ ist an sich grundsätzlich jede Person, die sich selbst verkehrserheblich verhält, das heißt körperlich und unmittelbar auf den Ablauf eines Verkehrsvorgangs einwirkt (BGH (…)). Im Rahmen des § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO ist „anderer Verkehrsteilnehmer“ aber nur ein Teilnehmer des fließenden Verkehrs, also nicht der vom Fahrbahnrand An- und in den fließenden Verkehr Einfahrende (KG (…); OLG München (…)). Das ergibt sich zwar nicht aus dem Wortlaut des § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO, aber aus der Entstehungsgeschichte der Norm, ihrer systematischen Stellung und ihrem Sinn und Zweck. Jura Intensiv Eine historische Auslegung der Norm ergibt bereits, dass An- und Einfahrende hierdurch nicht geschützt werden sollen. Die Gesetzesbegründung enthält ebenfalls keine Ausführungen dahingehend. [14] Eine Beschränkung des Schutzzwecks des § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO auf Verkehrsteilnehmer des fließenden Verkehrs ergibt sich auch aus der systematischen Stellung des § 7 Abs. 5 StVO nach den Absätzen 1 bis 4 des § 7 StVO (…) und dem Sinn und Zweck des § 7 StVO als Ausnahmevorschrift zum Rechtsfahrgebot des § 2 Abs. 2 StVO. § 7 Abs. 1 bis 4 StVO enthalten Regelungen für das Befahren von Fahrbahnen mit mehreren Fahrstreifen für eine Richtung und damit Vorschriften für den gleichgerichteten fließenden Verkehr, so dass sich die Wörter „in allen Fällen“ in § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO auf die in § 7 Abs. 1 bis 4 geregelten Situationen eines Fahrstreifenwechsels beziehen. Unter § 17 StVG erfolgt die den Schwerpunkt bildende Diskussion. BGH, Urteil vom 15.05.2018, VI ZR 231/17; BGH, Urteil vom 11.10.2016, VI ZR 66/16 Unproblematisch liegt ein Pflichtverstoß der K vor, § 10 S. 1 StVO. Schwerpunkt der Entscheidung: Prüfung, ob dem B1 als Fahrzeugführer überhaupt ein Pflichtverstoß anzulasten ist. Hauptproblem: Sowohl § 10 StVO als auch § 7 V StVO regeln Pflichten gegenüber „anderen Verkehrsteilnehmern“. Maßgebliche Norm für das Verhalten des B1: § 7 V 1 StVO BGH, Urteil vom 15.05.2018, VI ZR 231/17 So bereits: KG, Beschluss vom 15.08.2007, 12 U 202/06; OLG München, Urteil vom 17.12.2010, 10 U 2926/10 Auslegung, ob trotz identischen Wortlautes unterschiedliche Personenkreise mit „anderer Verkehrsteilnehmer“ gemeint sind. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 29.06.1989, 5 Ss 256/89 und 100/89 I © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

RA - Digital

Rspr. des Monats