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RA Digital - 06/2022

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316 Öffentliches Recht

316 Öffentliches Recht RA 06/2022 Problem: Widmungsbeschränkung einer öffentlichen Einrichtung Einordnung: Kommunalrecht / Grundrechte BVerwG, Urteil vom 20.01.2022 8 C 35.20 LEITSATZ Die Beschränkung des Widmungsumfangs einer kommunalen öffentlichen Einrichtung, die deren Nutzung allein aufgrund der Befassung mit einem bestimmten Thema ausschließt, verletzt das Grundrecht der Meinungsfreiheit. BDS steht für „Boycott, Divestment and Sanctions“. Es handelt sich um eine Boykottbewegung, die sich nach ihrem Selbstverständnis gegen den Staat Israel richtet. VG München, Urteil vom 12.12.2018, M 7 K 18.3672 VGH München, Urteil vom 17.11.2020, 4 B 19.1358, RA 2021, 201 Beachte: Als Bundesgericht darf das BVerwG nur Bundesrecht prüfen (§ 137 I Nr. 1 VwGO). EINLEITUNG Es geht um eine bisher höchstrichterlich ungeklärte Frage: Darf eine Stadt die Vergabe ihrer Räumlichkeiten davon abhängig machen, welche Meinungen bei den jeweiligen Veranstaltungen geäußert werden? SACHVERHALT Der Kläger (K) beantragte die Überlassung eines städtischen Veranstaltungssaales, um dort eine Podiumsdiskussion zum Thema „Wie sehr schränkt München die Meinungsfreiheit ein? - Der Stadtratsbeschluss vom 13.12.2017 und seine Folgen“ durchzuführen. Nach diesem Beschluss dürfen für Veranstaltungen, die sich mit den Inhalten, Themen und Zielen der sog. BDS-Kampagne befassen, diese unterstützen, diese verfolgen oder für diese werben, keine städtischen Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt werden. Der Begründung zufolge sollen städtische Räume nicht für eine Unterstützung der Kampagne genutzt werden; schon die Befassung mit ihr wird ausgeschlossen, um Umgehungen zu verhindern. Der Antrag des Klägers wurde unter Bezugnahme hierauf abgelehnt. Seine daraufhin erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht München abgewiesen. Der Verwaltungsgerichtshof hat das erstinstanzliche Urteil geändert und die Beklagte verpflichtet, dem Antrag des Klägers zu entsprechen. Im Revisionsverfahren vor dem BVerwG geht es nur noch um die revisible bundesrechtliche Frage, ob die mit dem Stadtratsbeschluss verbundene Beschränkung des Widmungsumfangs öffentlicher Einrichtungen der Stadt München gegen die Grundrechte des K verstößt. LÖSUNG Es kommt ein Verstoß gegen die Grundrechte des K aus Art. 5 I 1 1. Fall, 8 I, 3 I GG in Betracht, dem aber die Beklagte möglicherweise ihre Selbstverwaltungsgarantie aus Art. 28 II 1 GG entgegenhalten kann. Jura Intensiv I. Verstoß gegen Art. 5 I 1 1. Fall GG Art. 5 I 1 1. Fall GG ist verletzt, wenn ein nicht gerechtfertigter Eingriff in den Schutzbereich dieses Grundrechts vorliegt. 1. Eingriff in den Schutzbereich Umschreibung des Schutzbereichs „[18] Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleistet jedermann das Recht, seine Meinung frei zu äußern und zu verbreiten. Meinungen sind durch die subjektive Beziehung des Einzelnen zum Inhalt seiner Aussage geprägt. Für sie ist das Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens kennzeichnend. Insofern lassen sie sich auch nicht als wahr oder unwahr erweisen. Sie genießen den Schutz des Grundrechts, ohne dass es darauf ankommt, ob die Äußerung begründet oder grundlos, emotional oder rational ist, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt wird. Die Bürger sind dabei rechtlich auch nicht gehalten, die der Verfassung zugrunde liegenden Wertsetzungen persönlich zu teilen. Das Grundgesetz baut zwar auf Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 06/2022 Öffentliches Recht 317 der Erwartung auf, dass die Bürger die allgemeinen Werte der Verfassung akzeptieren und verwirklichen, erzwingt die Werteloyalität aber nicht. Es vertraut auf die Kraft der freien Auseinandersetzung als wirksamste Waffe auch gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien. Die Meinungsfreiheit ist nicht erst dann berührt, wenn das grundrechtlich geschützte Verhalten selbst eingeschränkt oder untersagt wird. Es genügt, dass nachteilige Rechtsfolgen daran geknüpft werden. [19] Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit ist von der Widmungseinschränkung des Stadtratsbeschlusses betroffen, weil der Ausschluss von der Nutzung öffentlicher Einrichtungen der Beklagten an absehbare Meinungsäußerungen zur BDS-Kampagne gleich welcher Richtung anknüpft. Der Stadtratsbeschluss unterbindet Meinungsäußerungen zur BDS-Kampagne zwar nicht unmittelbar. Er greift jedoch mittelbar in die Meinungsfreiheit ein, weil er mit dem Ausschluss von der Benutzung öffentlicher Einrichtungen eine nachteilige Rechtsfolge an die zu erwartende Kundgabe von Meinungen zur BDS-Kampagne oder zu deren Inhalten, Zielen oder Themen knüpft und damit eine meinungsbildende Auseinandersetzung zu diesem Thema behindert.“ 2. Rechtfertigung des Eingriffs Der Eingriff in die Meinungsfreiheit könnte gerechtfertigt sein. „[20] […] Nach Art. 5 Abs. 2 GG findet die Meinungsfreiheit ihre Grenzen in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze. Darunter sind Gesetze zu verstehen, die nicht eine Meinung als solche verbieten und sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten, sondern dem Schutz eines schlechthin ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsguts dienen. […] Ausgangspunkt für die Prüfung, ob ein Gesetz ein allgemeines ist, ist zunächst die Frage, ob eine Norm an Meinungsinhalte anknüpft. Erfasst sie das fragliche Verhalten völlig unabhängig von dem Inhalteiner Meinungsäußerung, bestehen hinsichtlich der Allgemeinheit keine Zweifel. Knüpft sie demgegenüber an den Inhalt einer Meinungsäußerung an, kommt es darauf an, ob die Norm dem Schutz eines auch sonst in der Rechtsordnung geschützten Rechtsguts dient. Ist dies der Fall, ist in der Regel zu vermuten, dass das Gesetz nicht gegen eine bestimmte Meinung gerichtet ist, sondern meinungsneutral allgemein auf die Abwehr von Rechtsgutverletzungen zielt. Insoweit nimmt nicht schon jede Anknüpfung an den Inhalt von Meinungen als solche einem Gesetz den Charakter als allgemeines Gesetz. Vielmehr sind auch inhaltsanknüpfende Normen dann als allgemeine Gesetze zu beurteilen, wenn sie erkennbar auf den Schutz bestimmter Rechtsgüter und nicht gegen eine bestimmte Meinung gerichtet sind. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Art. 5 Abs. 1 und 2 GG die Freiheit der Meinung als Geistesfreiheit unabhängig von der inhaltlichen Bewertung ihrer Richtigkeit oder Gefährlichkeit gewährleistet. Er erlaubt nicht den staatlichen Zugriff auf die Gesinnung, sondern ermächtigt erst dann zum Eingriff, wenn Meinungsäußerungen die rein geistige Sphäre des Für-richtig-Haltens verlassen und in Rechtsgutverletzungen oder erkennbar in Gefährdungslagen umschlagen. Dies ist der Fall, wenn sie den öffentlichen Frieden als Friedlichkeit der öffentlichen Auseinandersetzung gefährden und so den Übergang zu Aggression oder Rechtsbruch markieren. Jura Intensiv [21] Danach stellt der Stadtratsbeschluss kein allgemeines Gesetz im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG dar. Ihm fehlt schon die hierfür erforderliche Klassischer GR-Eingriff (-), jedoch mittelbarer GR-Eingriff (+) Der VGH hat an dieser Stelle i.Ü. genauer geprüft als das BVerwG und im Detail dargelegt, warum die Verweigerung einer öffentlichen Leistung ein Grundrechtseingriff ist (vgl. VGH München, Urteil vom 17.11.2020, 4 B 19.1358, RA 2021, 201, 203 f.). Art. 5 II GG: Qualifizierter Gesetzesvorbehalt Hier: Allgemeine Gesetze Definition „allgemeines Gesetz“ Prüfung, ob ein allgemeines Gesetz vorliegt. BVerfG, BVerfGE 124, 300, 321 f. (- Wunsiedel -) Vgl. BVerfG, BVerfGE 124, 300, 335 (- Wunsiedel -) Hier: Allgemeines Gesetz (-), es fehlt bereits an einem Gesetz. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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