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RA Digital - 06/2022

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322 Referendarteil:

322 Referendarteil: Öffentliches Recht RA 06/2022 grundrechtlich geschützte Verhaltensweisen handelt. In räumlicher Hinsicht gehört zur Privatsphäre ein Rückzugsbereich des Einzelnen, der ihm insbesondere im häuslichen, aber auch im außerhäuslichen Bereich die Möglichkeit des Zu-Sich-Selbst-Kommens und der Entspannung sichert und der das Bedürfnis verwirklichen hilft, „in Ruhe gelassen zu werden“. […] Subsumtion Schutzbereich des APR (+) Eingriff durch psychischen Druck Besondere Schutzwürdigkeit der betroffenen Frauen Räumlicher Schutzbereich Aber: APR schützt nicht pauschal vor der Konfrontation mit anderen Meinungen. Zu Recht macht die Beschwerde geltend, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht der eine Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle aufsuchenden Frauen durch eine Versammlung von Abtreibungsgegnern betroffen sein kann und sich die Wirkung nicht auf die […] als unangenehm empfundene Konfrontation mit einer anderen Meinung beschränkt. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht der ratsuchenden Frauen kann durch die Erzeugung von Schuld- und Schamgefühlen mittels des von der Antragsgegnerin angeführten Zeigens von Baby- und Fötusbildern, Marienikonen, Aufschriften wie „Ich will leben - ungeborenes Kind“, Gebete, Gesänge und Niederknien der Versammlungsteilnehmer beeinträchtigt werden. […] Auch psychischer Druck, der durch optische und akustische Wahrnehmung vermittelt wird, kann einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht darstellen. […] Bei der Wirkung der Versammlung auf ratsuchende Frauen ist zu berücksichtigen, dass sie sich durch die ungewollte Schwangerschaft in einer besonderen psychischen Belastungssituation befinden. Ein weiterer Aspekt, welcher das allgemeine Persönlichkeitsrecht der ratsuchenden Frauen berührt, ist ihr schutzwürdiges Geheimhaltungsinteresse hinsichtlich der bestehenden Frühschwangerschaft und des in Erwägung gezogenen Schwangerschaftsabbruchs. Es handelt sich um sehr persönliche Umstände, die nicht in die Öffentlichkeit getragen werden sollen. […] Räumlich ist der Schutzbereich der Privatsphäre nicht auf Innenräume beschränkt, sondern kann sich auch auf den außerhäuslichen Bereich erstrecken. Der Zugang zu einer Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle ist dabei in den Schutzumfang der Privatsphäre der ratsuchenden Frauen einzubeziehen, weil sie zur Inanspruchnahme der Beratung vor einem Schwangerschaftsabbruch gesetzlich verpflichtet sind. Jura Intensiv Nicht jede Wahrnehmbarkeit der Versammlung des Antragstellers durch schwangere Frauen, die die Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle aufsuchen, stellt bereits eine Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts dar. Insoweit weist das Verwaltungsgericht zutreffend darauf hin, dass die Rechtsordnung keinen Konfrontationsschutz vor nicht gewünschten anderen Ansichten gewährt. […] Die besondere psychische Belastung der ungewollt schwangeren Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch in Betracht ziehen, ist bei der Bestimmung des Schutzbereichs ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu berücksichtigen. Jedoch kann nicht bereits jegliche unangenehme Empfindung bei der Wahrnehmung der Versammlung deren räumliche Verlegung begründen. Dies wäre ein nicht gerechtfertigter Eingriff in das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit. Die Bekundung von Unbehagen, Unverständnis, Empörung oder rein subjektiv empfundener Bedrohlichkeit durch die schwangeren Frauen, andere Ratsuchende und die Beraterinnen und Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 06/2022 Referendarteil: Öffentliches Recht 323 Berater von pro familia gegenüber der Versammlung des Antragstellers darf nicht dazu führen, dass die unerwünschte und abgelehnte Meinung durch räumliche Verdrängung bekämpft und die Versammlungsteilnehmer in ihrem grundrechtlich gewährleisteten Recht auf freie Entscheidung über den Versammlungsort beschränkt werden. Ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der ratsuchenden schwangeren Frauen ist deshalb nur dann gegeben, wenn diese durch die Versammlung in eine unausweichliche Situation geraten, in der sie sich direkt und unmittelbar angesprochen sehen müssen. Dies wäre dann der Fall, wenn die Versammlung so nahe an dem Eingang der Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle stattfände, dass die Versammlungsteilnehmer den Frauen direkt ins Gesicht sehen könnten und die Frauen dem Anblick der als vorwurfsvoll empfundenen Plakate mit Baby- und Fötusbildern sowie Parolen und dem Anhören der Gebete und Gesänge aus nächster Nähe ausgesetzt wären. Die Versammlung auf der anderen Seite des Platzes gegenüber der Beratungsstelle von pro familia berührt das allgemeine Persönlichkeitsrecht der ratsuchenden Frauen nicht. […] Nach den Feststellungen der Berichterstatterin vor Ort und den gefertigten Fotos können Personen in jeder Blickrichtung nur von Weitem gesehen werden. Gesichter können nicht erkannt werden. […] Der Blick wird behindert durch das noch unbelaubte Geäst der größeren Büsche, die in zwei Reihen auf dem Plateau gepflanzt sind. Eine weitere Sichtbehinderung besteht durch parkende Fahrzeuge und Bäume unterhalb des Plateaus. Der Aufstellungsort der Versammlungsteilnehmer bietet keine wesentlich erhöhte Sichtposition zu dem Eingang der Beratungsstelle, weil das Gelände um das Plateau zum Palmengarten hin leicht ansteigt. Vor dem Gebäude von pro familia ist das Plateau nur über eine flache und eine auslaufende Stufe vom umgebenden Bereich getrennt. […] Zudem werden in der Geschäftsstelle von pro familia nicht ausschließlich Schwangerschaftskonfliktberatungen durchgeführt, sondern es gibt vielfältige Angebote etwa im Bereich Sexualpädagogik und Paarberatung. Das Aufsuchen der Beratungsstelle ermöglicht daher nicht den Rückschluss, die betreffende Person sei schwanger und denke über einen Schwangerschaftsabbruch nach. Die Plakate sind vom Standort vor dem pro-familia-Gebäude ebenfalls nur von Weitem zu sehen. […] Der Weg zu der Beratungsstelle führt von der Bockenheimer Landstraße kommend über die Palmengartenstraße und den befahrbaren Randbereich des Platzes unterhalb des Plateaus, der dem pro-familia-Gebäude zugewandt ist und verläuft damit ebenfalls deutlich entfernt von dem Aufstellungsort der Versammlung, […]. Auch soweit die Antragsgegnerin geltend macht, aus den Beratungszimmern von pro familia sei die Versammlung besser zu sehen, da der Blick nicht durch die Bepflanzung verstellt werde, vermag dies einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der ratsuchenden Frauen nicht zu begründen. Diese sind dort der Versammlung nicht aus nächster Nähe unmittelbar ausgesetzt, denn zu der Entfernung tritt noch der Schutz des Gebäudes und die Anwesenheit der Beraterinnen hinzu. Die akustische Ausprägung der Versammlung durch Gebete und Gesänge Jura Intensiv Konsequenz: Eingriff nur (+), wenn direkte und unmittelbare Ansprache der betroffenen Frauen erfolgt. Subsumtion Eingriff in das APR hier (-) Wichtig für die Klausuren: Umfassende Auswertung des Aktenstücks, es muss wirklich alles berücksichtigt werden, insbesondere das Vorbringen der Beteiligten. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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