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RA Digital - 07/2021

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358 Referendarteil:

358 Referendarteil: Zivilrecht RA 07/2021 Problem: Verletzung von Art. 1 I GG durch eine Eigenbedarfskündigung Einordnung: Mietrecht LEITSÄTZE 1. Eine Eigenbedarfskündigung kann den Mieter in seiner durch Art. 1 I GG garantierten Menschenwürde verletzen, wenn er sich in einem hohen Lebensalter befindet, tief am Ort der Mietsache verwurzelt ist und für ihn keine konkrete und realisierbare Chance mehr besteht, seine private Existenz aufgrund autonomer Entscheidungen wieder aufzubauen. 2. Verletzen die Kündigungsfolgen den Mieter in seiner Menschenwürde, kann eine Interessenabwägung nach § 574 I BGB allenfalls dann zu Gunsten des Vermieters ausfallen, wenn sein Erlangungsinteresse besonders drängend ist. Das Unstreitige wird im Indikativ Imperfekt dargestellt. Ausnahmen – insbesondere hier – sind Umstände, die sich auf die Gegenwart beziehen. Der streitige Parteivortrag wird im Präsens und indirekter Rede dargestellt. Aktuelle Anträge sind hervorzuheben. Dies erfolgt stets durch Einrücken, Thomas/Putzo/Seiler, ZPO, § 313 Rn 19. Trennen Sie zwischen Tatsachenbehauptungen und Rechtsansichten. LG Berlin, Urteil vom 25.05.2021 67 S 345/18 EINLEITUNG Das soziale Mietrecht, welches insbesondere auf den Schutzzweck des Art. 13 GG begründet ist, gewährt dem Eigentümer – wohlwollend formuliert – lediglich eingeschränkte Möglichkeiten dahingehend, ein eingegangenes Wohnraummietverhältnis auf seine Initiative hin zu beenden. In der Praxis sind zwei Fallarten relevant, zum einen gem. § 543 II 1 Nr. 3 BGB die fehlende Zahlung seitens des Mieters, mit der „Gefahr“ der Nachzahlung gem. § 569 III Nr. 2 S. 1 BGB, zum anderen die Kündigung wegen Eigenbedarfs gem. § 573 II Nr. 2 BGB. Die folgende Entscheidung beleuchtet die Frage, ob ein Eigenbedarf aufgrund eines sehr langen Mietverhältnisses und eines hohen Alters des Mieters für sich ausreicht, um eine Eigenbedarfskündigung auszuschließen. TATBESTAND Die Klägerin (K) ist Eigentümerin, die Beklagte (B) ist eine mittlerweile 89-jährige Wohnraummieterin, welche die Wohnung seit 1997 bewohnt. K erklärte am (…) und in der Folge noch mehrfach die Kündigung des Mietverhältnisses wegen Eigenbedarfs. Die B widersprach der Kündigung unter Verweis auf ihr hohes Alter, ihren beeinträchtigten Gesundheitszustand, ihre Verwurzelung am Ort der Mietsache und ihre für die Beschaffung von Ersatzwohnraum zu beschränkten finanziellen Mittel. K vertritt die Rechtsauffassung, die von der B geltend gemachten Härtegründe rechtfertigen eine Fortsetzung des Mietverhältnisses nach Ausspruch der Eigenbedarfskündigungen nicht. Jura Intensiv K beantragt, die Beklagte zu verurteilen, die im Erdgeschoß des Hauses, (Adresse), gelegene Drei-Zimmer-Wohnung mit Küche, Diele, Büro, Bad, 1 Kellerraum und einem Einstellplatz zu räumen und an die Klägerin geräumt herauszugeben. B beantragt, die Klage abzuweisen. B behauptet, am Ort der Mietsache „tief“ verwurzelt zu sein. Sie ist der Auffassung, das Mietverhältnis sei auf ihren Widerspruch hin fortzusetzen. ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der K steht der gegenüber der B geltend gemachte Räumungs- und Herausgabeanspruch gemäß den §§ 985, 546 I, BGB nicht zu. Die B hat den Kündigungen gemäß §§ 574 I, 574a I 1 BGB jeweils form- und fristgerecht i.S.d. § 574b BGB widersprochen, sodass der Anspruch auf Fortsetzung des Mietverhältnisses besteht. § 573 II Nr. 2 BGB ist nicht erfüllt. Neben den ausdrücklichen tatbestandlichen Voraussetzungen sind Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 07/2021 Referendarteil: Zivilrecht 359 [15] (…) neben dem Erlangungsinteresse des Vermieters auch das Bestandsinteresse des Mieters zu berücksichtigen, diese widerstreitenden Belange gegeneinander abzuwägen und in einen verhältnismäßigen Ausgleich zu bringen (BVerfG (…)). Unter einer Härte i.S.d § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB sind davon ausgehend alle dem Mieter aus der Vertragsbeendigung erwachsenden Nachteile wirtschaftlicher, finanzieller, gesundheitlicher, familiärer oder persönlicher Art zu verstehen, die in Folge der Vertragsbeendigung auftreten können. (…) Für die Annahme einer Härte ist es erforderlich (…), dass sich die Konsequenzen, die für den Mieter mit einem Umzug verbunden wären, von den mit einem Wohnungswechsel typischerweise verbundenen Unannehmlichkeiten deutlich abheben. BVerfG, Beschluss vom 09.10.2014, 1 BvR 2235/14 1. Abwägung widerstreitender Interessen 2. Ermittlung der Nachteile 3. Feststellung, dass diese Nachteile über die typischen „Unannehmlichkeiten“ hinausgehen Eine solche unbillige Härte liegt hier vor. [18] (…) Sie liegt darin begründet, dass die Beklagte den Besitz an ihrer Wohnung kündigungsbedingt zu einem Zeitpunkt aufgeben müsste, in dem sich in einem sehr hohen Lebensalter befindet und aufgrund langer Mietdauer am Ort der Mietsache verwurzelt ist. Die tiefe Verwurzelung der B ergibt sich zunächst aus der Dauer ihres mittlerweile 24-jährigen Aufenthalts in den von ihr bewohnten Räumen. Ebenfalls findet ihre medizinische Versorgung in der unmittelbaren Umgebung statt. Ebenfalls verfügt die B über soziale Kontakte in der Nachbarschaft, die auf eine „tiefe“ Verwurzelung am Ort der Mietsache schließen lassen (…). [33] Damit nehmen die Beeinträchtigungen, die die Beklagte im Falle des Verlustes ihrer Wohnung zu gegenwärtigen hätte, ein Ausmaß ein, das eine Verletzung ihrer durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Menschenwürde bedeutet (vgl. BGH (…)). Denn Art. 1 Abs. 1 GG und das Sozialstaatsprinzip verpflichten den Staat, die grundlegenden Voraussetzungen individueller und sozialer Existenz zu erhalten. Der Staat hat deshalb jenes Existenzminimum zu gewähren, das ein menschenwürdiges Dasein überhaupt erst ausmacht (st. Rspr., vgl. nur BVerfG, Urt. v. 21. Juni 1977 - 1 BvL 14/76, NJW 1977, 1525, juris Tz. 146 ff.; Urt. v. 9. Februar 2010 - 1 BvL 1/09, NJW 2010, 505, juris Tz. 133 ff. (Sozialleistungen)). Dieser Grundsatz beansprucht herausgehobene Bedeutung im besonders grundrechtsintensiven Bereich der menschlichen Wohn- und Lebenssituation (vgl. BVerfG, (…)). Mit einer so verstandenen Menschenwürde ist es aber bereits dem Grunde nach nicht zu vereinbaren, wenn die Kontinuität der auf einem unbefristeten Mietvertrag beruhenden Wohn- und Lebenssituation der Beklagten in ihrem letzten Lebensabschnitt nicht weitestgehend gewahrt, sondern ihr stattdessen die Wohnung als bisheriger Lebensmittelpunkt und Ort ihrer „tiefen“ Verwurzelung entzogen würde, ohne dass für sie eine konkrete und realisierbare Chance bestünde, ihre private Existenz anderen Ortes nicht nur aufgrund einer autonomen Entscheidung, sondern auch unter Erhalt der am Ort der Mietsache vorhandenen Wurzeln erneut und auf Dauer wieder aufzubauen (vgl. Kammer, a.a.O., Tz. 30). Jura Intensiv Die Interessen der K sind hier von untergeordneter Bedeutung. [35] Bei der Gewichtung des Vermieterinteresses an der Kündigung wegen Eigenbedarfs ist vor allem die Dringlichkeit des geltend gemachten Eigenbedarfs von Bedeutung (BGH (…)). Diese ist bei der Klägerin nur gewöhnlich Feststellung des Härtefalles Ausführungen zur „Verwurzelung“ BGH, Urteil vom 03.02.2021, VIII ZR 68/19, Tz. 41 BVerfG, Beschluss vom 10.10.2017, 1 BvR 617/14 Abwägung mit den Interessen des Vermieters, siehe hierzu unbedingt das Fazit. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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