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RA Digital - 07/2022

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342 Zivilrecht

342 Zivilrecht RA 07/2022 Problem: Mieterwechsel in der Wohngemeinschaft Einordnung: Mietrecht BGH, Urteil vom 27.04.2022 VIII ZR 304/21 LEITSATZ DER REDAKTION 1. Enthält ein Mietvertrag mit mehreren Mietern, die eine Wohngemeinschaft bilden, zu einem Austausch einzelner Mieter keine Regelung, ist im Wege einer nach beiden Seiten interessengerechten Auslegung der auf den Vertragsabschluss gerichteten Willenserklärungen (§§ 133, 157 BGB) zu ermitteln, ob nach dem übereinstimmenden Willen der Parteien den Mietern ein Anspruch gegen den Vermieter auf Zustimmung zu einem künftigen Mieterwechsel zustehen sollte. 2. Allein aus dem Vorliegen eines Mietvertrags mit mehreren Mietern, die eine Wohngemeinschaft bilden, kann nicht auf einen derartigen übereinstimmenden Willen der Vertragsparteien geschlossen werden. Vielmehr bedarf es hierfür konkreter Anhaltspunkte. 3. Nach den Umständen des Einzelfalls kann den Willenserklärungen der Parteien, die Vereinbarung eines unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit des eintretenden Mieters stehenden Anspruchs der Mieter auf Zustimmung zum Austausch eines Mitmieters insbesondere dann zu entnehmen sein, wenn die Vertragsparteien bei Vertragsschluss übereinstimmend davon ausgingen, dass sich häufig und in kurzen Zeitabständen ein Bedarf für eine Änderung der Zusammensetzung der in der Wohnung lebenden Personen ergeben kann, weil die Mieter voraussichtlich auf Grund ihrer persönlichen Lebensumstände, bereits bei Vertragsschluss absehbar nur für einen kurzen Zeitraum an dem jeweiligen Ort leben werden und eine vertragliche Bindung über diesen Zeitraum hinaus nicht eingehen wollen. Dies kann insbesondere bei der Vermietung an Studenten, die eine Wohngemeinschaft bilden der Fall sein. EINLEITUNG Der vorliegende Fall hat für Millionen Menschen eine praktische Bedeutung, denn vor allem in Universitätsstädten, jedoch nicht nur dort, ist die Wohngemeinschaft seit Jahrzehnten eine etablierte Form des Zusammenlebens geworden. SACHVERHALT Mit Mietvertrag vom 19.08.2013 vermietete B eine Wohnung mit sieben Zimmern an insgesamt sechs männliche Personen der Jahrgänge 1979 bis 1988. Noch vor Vertragsschluss war einer der in dem vorgedruckten Mietvertragsformular bereits aufgeführten potentiellen Mieter, handschriftlich durch eine andere Person ersetzt worden, die zusammen mit den in der Vertragsurkunde namentlich mit Geburtsdatum aufgeführten weiteren fünf Mitmietern den Mietvertrag sodann unterzeichnete. Die Vertragsurkunde enthält zur Frage eines nachträglichen Mieterwechsels keine ausdrückliche Regelung. Mit Nachtrag 1 vom 21.02.2017 vereinbarten B, die damaligen Mieter und sechs weitere Personen, dass fünf der bisherigen Mieter aus dem Mietverhältnis ausscheiden und dieses mit dem verbleibenden Mieter, sowie den sechs hinzukommenden Personen als Mieter fortgesetzt werde. Hierbei wurde geregelt, dass die neuen Mieter, sowohl hinsichtlich der Abrechnung der Vorauszahlungen auf Betriebskosten, als auch hinsichtlich des tatsächlichen Zustands der Wohnung so gestellt würden, als seien sie von vornherein Vertragspartei gewesen. Zugleich wurde die monatliche Grundmiete von 1.931,20 € auf 2.172,60 € erhöht. In einem zweiten Nachtrag wurde im Mai 2017 vereinbart, dass einer der im Februar 2017 eingetretenen Mieter wieder ausscheidet und das Mietverhältnis stattdessen mit einer neu eintretenden Person fortgesetzt wird. Diese Vereinbarung enthielt zu den Rechten und Pflichten des eintretenden Mieters dieselben Regelungen wie der erste Nachtrag, wobei die Miete nicht erhöht wurde. Im Oktober 2019 begehrten die K von B die Zustimmung zu einem Austausch von vier der Mieter, was B ablehnte. Die vier Personen, die nach dem Wunsch der K in das Mietverhältnis eintreten sollen, wohnen bereits im Wege eines Untermietverhältnisses anstelle der vier K, die aus dem Mietverhältnis ausscheiden wollen, in der streitgegenständlichen Wohnung. B ist der Meinung, einem Vermieter sei es aus Gründen der Vertragsautonomie auch dann nicht zuzumuten, Mieterwechseln zustimmen zu müssen, wenn er bei Vertragsschluss gewusst habe, dass die Mieter eine Wohngemeinschaft (WG) bilden wollten und deshalb ein Interesse daran hätten, bei Auszug einzelner Mieter neue WG-Mitglieder in die Wohnung aufzunehmen. Ein solcher Anspruch könne nämlich darauf hinauslaufen, dass der Vermieter die Wohnung „ein für alle Mal“ als WG-Wohnung gewidmet hätte und endgültig an den Mietvertrag gebunden bliebe. Die K hingegen meinen, sie hätten aufgrund der langjährigen, ständigen Übung bei Mieterwechseln einen Anspruch auf die Zustimmung zum Austausch. Zu Recht? Jura Intensiv Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 07/2022 Zivilrecht 343 LÖSUNG A. Anspruch der K gegen B auf Zustimmung zum Mieterwechsel aus ergänzender Auslegung des Vertrages gem. §§ 133, 157 BGB Der Vertrag enthält keine Regelung zum Mieterwechsel. Ein Anspruch auf Zustimmung der B kann sich aber aus einer interessengerechten Auslegung des Vertrages gem. §§ 133, 157 BGB ergeben. [19] Die Frage, ob sich aus dem Mietvertrag zwischen den Parteien und den Nachträgen auch ohne ausdrückliche Vereinbarung ein Anspruch auf Zustimmung in künftige Mieterwechsel oder gar eine antizipierte Einwilligung hierzu ergibt, ist mittels Auslegung der auf den Abschluss des Mietvertrags und der Nachträge gerichteten Erklärungen der Parteien zu beantworten. (...). Maßgeblich ist hierbei - wovon das Berufungsgericht unausgesprochen ausgegangen ist - der wirkliche Wille der Parteien, wobei die Auslegung sich daran auszurichten hat, wie Treu und Glauben es mit Rücksicht auf die Verkehrssitte erfordern (§§ 133, 157 BGB). Geboten ist insbesondere eine nach beiden Seiten interessengerechte Auslegung der auf den Vertragsabschluss beziehungsweise auf die Nachtragsvereinbarungen gerichteten Willenserklärungen der Vertragsparteien, bei der neben allen Umständen des Einzelfalls auch die Gebote von Treu und Glauben zu berücksichtigen sind (…) Fraglich ist nämlich, ob einem Mietvertrag mit mehreren Mietern, die eine Wohngemeinschaft bilden, eine bereits vorab erteilte Zustimmung zu einem Mieterwechsel oder ein Anspruch hierauf zu entnehmen ist. [21] Nach verbreiteter Ansicht ergibt sich aus dem Mietvertrag ein Anspruch auf Zustimmung zu einem Mieterwechsel in der Regel jedenfalls bei einer Vermietung an mehrere Personen, deren Zusammenleben für den Vermieter erkennbar von vornherein auf Fluktuation angelegt war. In dieser Konstellation komme es dem Vermieter auf die konkrete Zusammensetzung der Wohngemeinschaft nicht an. Dies wird insbesondere bei Studenten angenommen, weil bei diesen das Zusammenwohnen im Regelfall von vornherein nur für eine vorübergehende Zeit beabsichtigt sei und die Dauer der Mietzeit für jeden Mieter unterschiedlich durch den Studienabschluss oder einen Studienortwechsel bestimmt werde (…). [22] Teilweise wird ein Anspruch auf Zustimmung oder - weitergehend - eine antizipierte Einwilligung bereits dann bejaht, wenn das Mietverhältnis mit mehreren Personen abgeschlossen wurde, die eine Wohngemeinschaft bilden, wobei häufig - rechtlich ungenau - von einem „Mietvertrag mit einer Wohngemeinschaft“ gesprochen wird (…). [23] Nach anderer Ansicht besteht ohne konkrete Anhaltspunkte allein wegen der Vermietung an eine (auch studentische) Wohngemeinschaft ein Anspruch auf Zustimmung zu einem Mieterwechsel beziehungsweise eine antizipierte Einwilligung zu einem künftigen Wechsel nicht (…). [24] Die angeführten Auffassungen nehmen allerdings häufig nicht hinreichend in den Blick, dass die Frage, ob ein Anspruch auf eine Zustimmung des Vermieters zu einem Mieterwechsel vereinbart oder gar eine antizipierte Einwilligung hierzu erteilt worden ist, allein im Wege der Auslegung zu beurteilen ist. Im Hinblick darauf, dass die Auslegung eines Vertrags stets auf Grund der konkreten Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu erfolgen hat, verbietet sich eine grundsätzliche und Jura Intensiv Der Ausgangspunkt: Gerichte müssen im Vertragsrecht den wirklichen Willen der Parteien ermitteln. Bei der interessengerechten Auslegung der Willenserklärungen sind neben den Umständen des Einzelfalles auch die Gebote von Treu und Glauben zu berücksichtigen. Lies hierzu auch die Entscheidung BGH, VIII ZR 254/20 = RA 09/2021, 453 ff. e.A.: Anspruch auf Zustimmung, wenn Mietvertrag auf Fluktuation angelegt war, z.B.: LG Berlin, Urteil vom 24.05.2019, 66 S 66/19 a.A.: Anspruch auf Zustimmung bei Mietvertrag mit einer Wohngemeinschaft, z.B. LG Berlin, Urteil vom 11.01.2017, 65 S 375/16 a.A.: Kein Anspruch auf Zustimmung ohne konkrete Anhaltspunkte, z.B. LG Trier, WuM 1997, 548 Kritik des VIII. Zivilsenates des BGH an der Instanzrechtsprechung: Es kommt allein auf die Auslegung der Willenserklärungen der Parteien an. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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