372 Öffentliches Recht RA 07/2022 Wertigkeit des verfolgten Ziels / geschützte Rechtsgüter Zweck-Mittel-Relation Das BVerfG geht nachfolgend umfassend auf die Gewährleistung der Impfsicherheit ein (Rn 223-227 der Entscheidung). [217] Dem Eingriff in die grundrechtlich verbürgte körperliche Unversehrtheit […] sind Verfassungsgüter mit überragendem Stellenwert gegenüberzustellen. […] [218] Neben dem erhöhten Risiko, schwerwiegend oder sogar tödlich an COVID-19 zu erkranken, war die staatliche Schutzpflicht gegenüber vulnerablen Personen auch deshalb in besonderem Maße aktiviert, weil diese nicht oder allenfalls eingeschränkt in der Lage sind, ihr Infektionsrisiko durch eine Impfung selbst zu reduzieren. Sie sind in ungleich größerem Ausmaß als andere Personen darauf angewiesen, dass Übertragungsketten frühzeitig unterbrochen werden. Bei den in § 20a Abs. 1 IfSG genannten Einrichtungen und Unternehmen handelt es sich zudem um solche, die gerade Leistungen zu Gunsten älterer, auf medizinische Leistungen angewiesener, pflegebedürftiger und/oder behinderter Menschen erbringen. Die Inanspruchnahme solcher Leistungen steht ganz überwiegend nicht zur freien Disposition dieser Personen, sondern betrifft typischerweise ihre essentiellen Grundbedürfnisse. […] [220] […] Im Regelungsdetail lässt sich aus den in § 20a IfSG integrierten oder diese Vorschrift ergänzenden Milderungen ableiten, dass der Gesetzgeber eine Zumutbarkeitsgrenze gezogen hat. Er hat die Reichweite der Nachweispflicht gegenständlich begrenzt und sie zeitlich befristet. […] [221] Der Gesetzgeber hat die Impfentscheidung für die Betroffenen auch nicht selbst getroffen, wie etwa im Fall medizinischer Zwangsbehandlungen oder Zwangsmedikationen von Untergebrachten. Daher besteht das in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG wurzelnde Selbstbestimmungsrecht zumindest dem Grunde nach fort. […] [222] Soweit sich die Eingriffstiefe der Nachweispflicht in erster Linie durch Art, Ausmaß und Wahrscheinlichkeit von Impfrisiken beurteilt, lag § 20a IfSG eine vertretbare, auf belastbare Tatsachen gestützte gesetzgeberische Entscheidung zur Impfsicherheit zugrunde. […] [230] Der sehr geringen Wahrscheinlichkeit von gravierenden Folgen einer Impfung steht im Ergebnis die deutlich höhere Wahrscheinlichkeit einer Beschädigung von Leib und Leben vulnerabler Menschen gegenüber. […]“ Jura Intensiv Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung des gesetzgeberischen Einschätzungsspielraums sind die umstrittenen Vorschriften angemessen. Der Eingriff in Art. 2 II 1 GG ist daher gerechtfertigt. Aktuelle Übungsklausur zu dem Thema: Böhm/van Leeuwen/ Hall-Waldhauser, JA 6/2022, 479 Rn 243-265 der Entscheidung FAZIT Examensrelevant sind vor allem die Ausführungen zum mittelbaren Grundrechtseingriff und zu den Grenzen der Wesentlichkeitstheorie, die insbesondere bei „dynamischen Situationen“ erreicht sind. In der Verhältnismäßigkeit befasst sich das BVerfG mit etlichen Argumenten, die typischerweise gegen die Impfpflicht ins Feld geführt werden. Neben Art. 2 II 1 GG hat das Gericht auch noch Art. 12 I GG geprüft, den Eingriff in dieses Grundrecht aber ebenfalls als gerechtfertigt angesehen. Relevant war hier vor allem die besondere Verantwortung der von der Impfpflicht betroffenen Personen gegenüber dem von ihnen betreuten und behandelten vulnerablen Personenkreis. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG
RA 07/2022 Öffentliches Recht 373 Problem: T-Shirts mit großem „Z“ als Kundgebungsmittel Einordnung: Versammlungsrecht OVG Magdeburg, Beschluss vom 27.04.2022 3 M 45/22 EINLEITUNG Der Buchstabe „Z“ wird in überdimensionaler Form von den russischen Streitkräften im Rahmen ihres Angriffskrieges gegen die Ukraine verwendet. Seine öffentliche Präsentation in Deutschland, insbesondere bei Versammlungen, hat zu hitzigen Diskussionen geführt. Rechtlich stellt sich Frage, ob das Zeigen dieses Symbols bei einer Versammlung untersagt werden darf. SACHVERHALT Der Antragsteller (A) meldete für den 28.4.2022 eine Versammlung zum Thema „Gegen die Diskriminierung von Zitronenlimonade“ an. Im Zuge dieser Versammlung sollen T-Shirts mit dem weißen Aufdruck: „mmmhhh Z-itronenlimonade“ als Kundgebungsmittel verwendet werden, wobei der Buchstabe „Z“ überdimensional groß abgedruckt werden soll. Mit der Versammlung möchte A gegen die Einleitung von strafrechtlichen Ermittlungsverfahren wegen Verwendung des Buchstabens „Z“ auch in den Fällen, in denen keine Befürwortung des russischen Angriffes auf die Ukraine ausgedrückt wird, protestieren. Gegenüber der Versammlungsbehörde erklärte A, er werde die von ihm in der Vergangenheit gezeigte russische Nationalfahne nicht mehr einsetzen und bei der Versammlung auch nicht seine persönliche Meinung zum Russland-Ukraine-Konflikt und dessen Ursachen verbal kundtun. Die Versammlungsbehörde untersagte A die Verwendung des T-Shirts. Ist diese Anordnung rechtmäßig? [Anmerkung: Von der formellen Rechtmäßigkeit der Anordnung ist auszugehen.] LÖSUNG Die Anordnung ist rechtmäßig, wenn sie auf einer wirksamen Ermächtigungsgrundlage beruht, die formell und materiell fehlerfrei angewendet wurde. I. Ermächtigungsgrundlage für die Anordnung Ermächtigungsgrundlage für die Anordnung ist § 13 I VersammlG LSA. II. Formelle Rechtmäßigkeit der Anordnung Die Anordnung ist formell rechtmäßig. Jura Intensiv III. Materielle Rechtmäßigkeit der Anordnung Die Anordnung ist materiell rechtmäßig, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen des § 13 I VersammlG LSA vorliegen und das auf der Rechtsfolgenseite eröffnete Ermessen fehlerfrei ausgeübt wurde. 1. Öffentliche Versammlung unter freiem Himmel Eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel liegt vor. LEITSÄTZE (DER REDAKTION) 1. Verstöße gegen Strafnormen rechtfertigen gefahrenabwehrrechtliche Maßnahmen bereits dann, wenn nur der objektive Tatbestand vorliegt und Rechtfertigungsgründe fehlen. Auf subjektive Voraussetzungen wie Vorsatz, Fahrlässigkeit und Schuld kommt es nicht an, weil keine Straftaten geahndet werden sollen. 2. Die Invasion Russlands in die Ukraine verwirklicht den Straftatbestand des Angriffskrieges. 3. Das Tragen eines T-Shirts mit dem überdimensionalen Buchstaben „Z“ in der Form, wie er von den russischen Invasionskräften in der Ukraine verwendet wird, verwirklicht den objektiven Tatbestand der Billigung eines Angriffskrieges. Die daraus folgende Gefahr für die öffentliche Sicherheit kann Anlass für Eingriffsmaßnahmen einer Versammlungsbehörde sein. Obersatz § 13 I VersammlG LSA ist inhaltlich weitgehend identisch mit § 15 I VersammlG des Bundes. Obersatz Ergebnissatz, da unproblematisch © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis
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