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RA Digital - 07/2022

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382 Strafrecht

382 Strafrecht RA 07/2022 LÖSUNG Durch seine Äußerungen in dem veröffentlichten Interview könnte A sich wegen Beleidigung gem. § 185 StGB strafbar gemacht haben. A. Tatbestand Durch die Handlung des A müsste ein beleidigungsfähiges Opfer betroffen sein. OLG Braunschweig, Beschluss vom 12.11.2003, 1 Ss 44/03 Die Beleidigung eines Kollektivs, also einer Personenmehrheit als solcher, ist nur möglich, wenn diese Personenmehrheit genau abgrenzbar ist, eine rechtlich anerkannte Funktion erfüllt und einen eigenen Willen zu bilden vermag. Die Beleidigung der zu einem Kollektiv gehörenden individuellen Personen unter der Kollektivbezeichnung kann nur dann strafbar sein, wenn der betroffene Personenkreis sich deutlich aus der Allgemeinheit hervorhebt, klar umrissen und überschaubar ist und eine Zuordnung des Einzelnen zu der ehrverletzenden Äußerung möglich ist, da sich die Mitglieder zweifelsfrei bestimmen lassen. „[15] Eine Strafbarkeit des Angeklagten [gem. § 185 StGB] scheidet […] bereits deswegen aus, da sich diese Äußerungen nicht auf konkrete Personen beziehen und die von etwaigen falschen Tatsachenbehauptungen gegebenenfalls verächtlich gemachten Personen nicht hinreichend bestimmt sind. Gleiches gilt hinsichtlich der entsprechenden Äußerungen des Angeklagten, die insoweit als Werturteile zu sehen sind. Das Landgericht hat in nicht zu beanstandender Weise festgestellt, dass die einzelnen Äußerungen des Angeklagten im Kontext des gesamten Interview-Textes und der Entscheidung des Bundestags zum ‚Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechtes‘ ausgelegt werden müssen. [16] Vorliegend hat das Landgericht zutreffend festgestellt, dass es sich weder bei Homosexuellen an sich noch bei in Partnerschaften lebenden Homosexuellen oder in lesbischen Partnerschaften aufwachsenden (möglicherweise durch künstliche Befruchtung gezeugten) Kindern um eine beleidigungsfähige Gruppe handelt bzw. dass allgemein gehaltene eventuell beleidigungsfähige Werturteile oder eine Gruppe eventuell verächtlich machende unrichtige Tatsachen jedenfalls nicht auf die persönliche Ehre der einzelnen Mitglieder der Gruppe durchschlagen. Das Landgericht hat gemäß der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geprüft, ob durch die einzelnen Äußerungen überhaupt die persönliche Ehre der einzelnen Gruppenangehörigen beeinträchtigt wird und auch beachtet, dass es nicht zur Unterdrückung kritischer Äußerungen über politische und soziale Erscheinungen oder Einrichtungen kommen darf. Hier hat das Landgericht mit zutreffender Begründung bereits eine Beeinträchtigung der persönlichen Ehre der einzelnen Gruppenangehörigen durch die Äußerungen des Angeklagten verneint. Da es sich weder bei Homosexuellen noch bei in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften lebende Kinder um eine abgrenzbare und deutlich überschaubare Gruppe handelt, schlagen entsprechende Äußerungen über die Gruppe an sich nicht auf die persönliche Ehre jedes einzelnen Angehörigen der Gruppe durch. Hinsichtlich beider Personengruppen ist der Kreis der Betroffenen nicht klar abgegrenzt, zumal von den meisten Betroffenen zudem gar nicht bekannt ist, ob sie eine (ausschließlich) homosexuelle Veranlagung haben bzw. möglicherweise durch künstliche Befruchtung gezeugt worden und in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften aufwachsen bzw. aufgewachsen sind. Auch heben sich beide Gruppen nicht aufgrund bestimmter Merk-male so deutlich aus der Allgemeinheit heraus, als dass der Kreis der Betroffenen klar abgegrenzt ist.“ Jura Intensiv Durch die Äußerungen des A wurde also kein beleidigungsfähiges Opfer verletzt. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 07/2022 Strafrecht 383 B. Ergebnis A ist nicht strafbar gem. § 185 StGB. FAZIT Das OLG macht auch noch weitere Ausführungen bzgl. der Berücksichtigung des Grundrechts der Meinungsfreiheit gem. Art. 5 GG im Rahmen der Prüfung einer Strafbarkeit wegen Beleidigung. „[18] b) Darüber hinaus stellen die im Interview-Text gemachten Äußerungen des Angeklagten auch keine strafbaren Beleidigungshandlungen dar, sondern sind von dessen Grundrecht der Meinungsfreiheit aus Art. 5 GG gedeckt. Hierbei hat das Landgericht überzeugend festgestellt, dass das Interview des Angeklagten sowohl tatsächliche als auch wertende Bestandteile enthält, diese jedoch dergestalt miteinander verbunden sind, dass sie nicht getrennt voneinander betrachtet werden können. Andernfalls würde der Sinn der Äußerung verfälscht werden, weswegen das Landgericht sämtliche beanstandeten Äußerungen im Interview im Interesse eines wirksamen Grundrechtsschutzes als Meinungsäußerung angesehen und in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit einbezogen hat; andernfalls drohte eine wesentliche Verkürzung des Grundrechtsschutzes. Das Landgericht hat insoweit in nicht zu beanstandender Weise dargelegt, dass der Angeklagte im Interview in Gänze als Evolutionsbiologe zu seiner Meinung zum vom Bundestag am 20. Juni 2017 beschlossenen ‚Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechtes‘ gefragt worden ist. Im Interview als solchem hat der Angeklagte unter Verwendung biologischer Begriffe unter Hinweis auf sein Fachbuch […] und der von ihm kritisierten Genderforschung von John Money unter anderem wissenschaftliche Thesen aufgestellt, die als meinungsbildende Faktoren für seine Bewertungen gesehen werden können. Das Landgericht hat insoweit die Äußerungen des Angeklagten im Interview als Meinungsäußerungen, mithin als wertende Stellungnahme zur sogenannten ‚Ehe für alle‘ und zum Adoptionsrecht für Homosexuelle angesehen. Es hat sich inhaltlich dezidiert mit den einzelnen Äußerungen auseinandergesetzt und zutreffend dargelegt, dass es sich bei diesen nach der nicht zu beanstandenden Auslegung der Äußerungen weder um Formalbeleidigungen noch um Schmähkritik, sondern lediglich um eine mit drastischen und in Teilen inhaltlich geschmacklos wirkenden Worten geäußerte Kritik an der ‚Ehe für alle‘ und einem Adoptionsrecht für Homosexuelle handelt, die von der Meinungsfreiheit des Angeklagten gedeckt und daher nicht strafbar ist. [19] Entgegen der Auffassung der Revision wird die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) von Homosexuellen und in gleichgeschlechtlichen Paaren lebenden Kindern durch die Äußerungen des Angeklagten nicht berührt. Denn der Angeklagte hat in seinen teils zwar drastischen Äußerungen gleichgeschlechtlichen Paaren sachlich allein das Recht abgesprochen, verschiedengeschlechtlichen Paaren im Hinblick auf Eheschließung und Adoptionsrecht gleichgestellt zu werden. Sonstige Rechtspositionen von Homosexuellen hat er hingegen in keiner Weise in Frage gestellt. Vielmehr hat der Angeklagte zu Beginn des Interviews geäußert, dass man Homosexuelle - die er als ‚homoerotisch veranlagte Männer und Frauen‘ bezeichnet - so akzeptieren muss, wie sie sind und man diese keineswegs diskriminieren sollte. Jura Intensiv Diese Ausführungen wären dann in einem Gutachten interessant, wenn doch eine beleidigungsfähige Person vorhanden wäre, z.B. wenn A in einer Diskussionsrunde zu einem verheirateten homosexuellen Diskussionsteilnehmer sagen würde: „Für Sie gilt, was für andere Homosexuelle auch gilt…“ und dann seine Äußerungen wiederholen würde. BVerfG, Beschluss vom 13.04. 1994, 1 BvR 23/94, NJW 1994, 1779 © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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