340 Zivilrecht RA 07/2022 Die o.g. Auslegung der Vertragspflicht ist so eindeutig, dass von einer Vertragslücke keine Rede sein kann. Eine Pandemie ist eine der „Sozialkatastrophen“, welche die Juristen sofort an den Wegfall der Geschäftsgrundlage denken lassen. In den vergangenen Ausgaben thematisierten wir dies im Zusammenhang mit Mietobjekten mehrfach, etwa in BGH RA 05/2022, 225 ff. oder in BGH RA 02/2022, 77 ff. Die vorliegende Entscheidung verneint die Anwendbarkeit des § 313 I BGB wegen des Vorliegens der Unmöglichkeit sowie der Vorrangigkeit der Gutscheinsregelung in Art. 240, § 5 II EGBGB. Beides ist äußerst examensrelevant. Die gesetzliche Gutscheinsregelung in Art. 240, § 5 II EGBGB wurde für Fälle wie den vorliegenden eingeführt. des Vertrags eine angemessene, interessengerechte Lösung nicht zu erzielen wäre. Die ergänzende Vertragsauslegung muss sich als zwingende selbstverständliche Folge aus dem Gesamtzusammenhang des Vereinbarten ergeben, so dass ohne die vorgenommene Ergänzung das Ergebnis in offenbarem Widerspruch mit dem nach dem Inhalt des Vertrags tatsächlich Vereinbarten stehen würde (...). Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Damit liegt keine von den Rechtsfolgen der §§ 326 I, 326 IV BGB abweichende Vereinbarung vor. 2. Vertragsanpassung gem. § 313 I BGB Fraglich ist, ob sich eine Abweichung von diesen Rechtsfolgen wegen Störung der Geschäftsgrundlage gem. § 313 I BGB durch Vertragsanpassung ergibt. § 313 I BGB findet aber keine Anwendung, wenn eine vorrangige, gesetzliche Regelung vorhanden ist. [30] Eine Anpassung vertraglicher Verpflichtungen an die tatsächlichen Umstände kommt grundsätzlich dann nicht in Betracht, wenn das Gesetz in den Vorschriften über die Unmöglichkeit der Leistung die Folge der Vertragsstörung bestimmt (...). Daher scheidet eine Anwendung des § 313 BGB aus, soweit der Tatbestand des § 275 Abs. 1 BGB erfüllt ist (...). Ein Anspruch der B auf die begehrte Vertragsanpassung würde auch ausscheiden, wenn mit Art. 240 § 5 II EGBGB eine speziellere Vorschrift bestünde. [34] Grundsätzlich ist eine Vertragsanpassung wegen Störung der Geschäftsgrundlage nach § 313 BGB nicht möglich, wenn der Gesetzgeber das Risiko einer Vertragsstörung erkannt und zur Lösung der Problematik eine spezielle gesetzliche Vorschrift geschaffen hat. (...). In diesen Fällen ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber die Gefahr einer bestimmten Vertragsstörung erkannt hat und mit der gesetzlichen Regelung für einen angemessenen Interessenausgleich zwischen den Beteiligten sorgen wollte. Wäre in diesen Fällen daneben auch eine Vertragsanpassung nach den Grundsätzen der Störung der Geschäftsgrundlage möglich, bestünde die Gefahr, dass die gesetzgeberische Wertung umgangen wird (...). Daher kann in diesen Fällen auf § 313 BGB nur dann zurückgegriffen werden, wenn der Anwendungsbereich der speziellen Vorschrift im Einzelfall nicht berührt ist (...). [36] Zur Zeit der Schaffung dieser Vorschrift mussten aufgrund der umfangreichen Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie und der damit verbundenen Veranstaltungsverbote und Kontaktbeschränkungen eine Vielzahl von Veranstaltungen abgesagt und Freizeiteinrichtungen vorübergehend geschlossen werden. Daher konnten vielfach bereits erworbene Eintrittskarten nicht eingelöst werden. Ebenso konnten Inhaber einer zeitlichen Nutzungsberechtigung für eine Freizeiteinrichtung diese für eine gewisse Zeit nicht nutzen. Da der Gesetzgeber zutreffend davon ausging, dass die Inhaber der Eintrittskarten und Nutzungsberechtigungen gemäß §§ 275 Abs. 1, 326 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4, 346 Abs. 1 BGB berechtigt sind, die Erstattung des Eintrittspreises oder Entgelts von dem jeweiligen Veranstalter oder Betreiber zu verlangen, befürchtete er bei diesen einen erheblichen Liquiditätsabfluss, der für viele Unternehmen im Veranstaltungsbereich zu einer existenzbedrohenden Situation hätte führen können (BT-Drucks. 19/18697 S. 1 und 5). Zudem sah der Gesetzgeber die Gefahr, dass Jura Intensiv Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG
RA 07/2022 Zivilrecht 341 Insolvenzen von Veranstaltungsbetrieben neben den nachteiligen Folgen für die Gesamtwirtschaft und das kulturelle Angebot in Deutschland voraussichtlich auch dazu führen würden, dass viele Inhaber von Eintrittskarten oder Nutzungsberechtigungen keine Rückerstattung erhalten würden (BT-Drucks. 19/18697 S. 5). [37] Um diese unerwünschten Folgen nach Möglichkeit zu verhindern, wollte der Gesetzgeber mit Art. 240 § 5 EGBGB für Veranstaltungsverträge, die vor dem 8. März 2020 abgeschlossen waren, eine Regelung schaffen, die die Veranstalter von Freizeitveranstaltungen dazu berechtigt, den Inhabern von Eintrittskarten statt der Erstattung des Eintrittspreises einen Gutschein in Höhe des Eintrittspreises auszustellen (...), sofern die Veranstaltung aufgrund der Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie nicht stattfinden konnte. Durch Art. 240 § 5 Abs. 2 EGBGB wurde dem Betreiber einer Freizeiteinrichtung das Recht eingeräumt, dem Nutzungsberechtigten einen Gutschein zu übergeben, der dem Wert des nicht nutzbaren Teils der Berechtigung entspricht (BT-Drucks. 19/18697 S. 5). [39] Durch diese Gutscheinlösung hat der Gesetzgeber unter Berücksichtigung der Interessen sowohl der Unternehmer im Veranstaltungs- und Freizeitbereich als auch der Interessen der Kunden eine abschließende Regelung getroffen, um die Auswirkungen der Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie im Veranstaltungs- und Freizeitbereich abzufangen. Zwar bleibt es den Vertragsparteien trotz dieser Regelung unbenommen, eine anderweitige vertragliche Vereinbarung zu schließen. Eine Vertragsanpassung nach den Grundsätzen über die Störung der Geschäftsgrundlage findet daneben jedoch nicht statt. Könnte der Betreiber einer Freizeiteinrichtung nach § 313 Abs. 1 BGB von seinem Kunden verlangen, dass die Zeit einer Betriebsschließung an die vertraglich vereinbarte Vertragslaufzeit angehängt wird, würde das vom Gesetzgeber mit der Gutscheinlösung verfolgte Regelungskonzept umgangen (...). [42] Der streitgegenständliche Fitnessstudiovertrag ist vom sachlichen und die Beklagte als Inhaberin des Fitnessstudios vom persönlichen Anwendungsbereich der Vorschrift erfasst (...). Da der Vertrag vor dem 8. März 2020 abgeschlossen wurde, ist auch der zeitliche Anwendungsbereich der Vorschrift gegeben. Die Beklagte wäre daher berechtigt gewesen, dem Kläger statt der Erstattung des Entgelts für die Zeit der Schließung des Fitnessstudios einen entsprechenden Gutschein zu übergeben. Von dieser Möglichkeit hat sie jedoch keinen Gebrauch gemacht. Nach den getroffenen Feststellungen hat sie dem Kläger lediglich eine „Gutschrift über Trainingszeit“ ausgestellt, die den Anforderungen nach Art. 240 § 5 Abs. 3 und 4 EGBGB nicht entspricht (...). Jura Intensiv Damit kann B wegen der Existenz dieser gesetzlichen Regelung keine Vertragsanpassung gem. § 313 I BGB verlangen. B. Ergebnis K hat gegen B einen Anspruch auf Rückzahlung der 86,75 € aus §§ 326 I 1, IV, 346 I BGB. Ergänzung: Der Gesetzgeber hat mit der „Gutscheinlösung“ auch die Interessen des Kunden ausreichend berücksichtigt. Art. 240 § 5 V EGBGB enthält nämlich eine Unzumutbarkeitsregelung. Danach kann der Inhaber eines Gutscheins die Auszahlung des Werts verlangen, wenn der Verweis auf einen Gutschein für ihn angesichts seiner persönlichen Lebensumstände unzumutbar ist oder er den Gutschein nicht bis zum 31. Dezember 2021 eingelöst hat. Auch dies prägt den Charakter als abschließende Regelung. Eine Vertragsanpassung nach § 313 I BGB würde das Regelungskonzept umgehen. Wichtig: Ein Gutschein i.S.d. Art. 240 § 5 II EGBGB lag schon deshalb nicht vor, weil die „Gutschrift über Trainingszeit“ gem. Art. 240 § 5 V EGBGB nicht in Geld auszahlbar war. FAZIT Durch den Shutdown trat eine rechtliche Unmöglichkeit gem. § 275 I BGB ein. Die Regelung des § 326 I, IV BGB unterliegt bei Vorliegen eines Falles des Art. 240, § 5 II EGBGB nicht dem § 313 I BGB. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis
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