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RA Digital - 08/2018

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422 Nebengebiete

422 Nebengebiete RA 08/2018 [72] 1. Die Anwendung und Auslegung der Gesetze durch die Gerichte steht mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 IIIGG) in Einklang, wenn sie sich in den Grenzen vertretbarer Auslegung und zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung bewegt. Art. 2 I GG gewährleistet in Verbindung mit Art. 20 III GG den Einzelnen, dass ihnen gegenüber ergehende Entscheidungen diesen Anforderungen genügen. Das BVerfG hat dargelegt, dass der gesetzgeberische Wille einen angemessenen Ausgleich der widerstreitenden grundrechtlich geschützten Interessen darstellt. Dies ist – natürlich – die Bedingung dafür, dass die Rechtsprechung diesen Willen des Gesetzgebers nicht umgehen darf. [55] Die mit § 14 II 2 TzBfG einhergehenden Beeinträchtigungen der Rechte der Arbeitsplatzsuchenden und der Arbeitgeber, erneut einen Arbeitsvertrag sachgrundlos zu befristen, stehen nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zwecken, da die Arbeitsgerichte die Anwendung der Norm in verfassungskonformer Auslegung auf Fälle ausschließen können, in denen dies für die Beteiligten unzumutbar wäre. [56] Die Regelung schränkt in der Auslegung des vorlegenden Gerichts die Chancen der Bewerberinnen und Bewerber bei der Arbeitsplatzsuche ein, da sie bei demselben Arbeitgeber nicht nochmals sachgrundlos befristet beschäftigt werden können. Das berührt ihr Recht, bei gleicher Eignung auch die gleiche Chance auf einen Arbeitsplatz zu haben. (…) [57] § 14 II 2 TzBfG beeinträchtigt darüber hinaus die durch Art. 12 I, Art. 2 I GG anerkannten Flexibilisierungsinteressen der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber. Sie müssen personalwirtschaftlich auf schwankende Auftragslagen und wechselnde Marktbedingungen flexibel reagieren können, um wettbewerbsfähig zu bleiben. (…) Das Risiko der Arbeitgeber, bei weit zurückliegenden und eventuell schwer zu ermittelnden Vorbeschäftigungen eine unwirksame sachgrundlose Befristung und damit ungewollt einen unbefristeten Dauerarbeitsvertrag zu vereinbaren, ist zudem durch das Fragerecht des Arbeitgebers verringert, das § 14 II TzBfG flankiert. [58] Auf der anderen Seite stehen allerdings verfassungsrechtlich anerkannte, gewichtige Belange, die der Gesetzgeber mit § 14 II 2 TzBfG verfolgt. [73] Zu den Aufgaben der Rechtsprechung gehört die Rechtsfortbildung. (...). Richterliche Rechtsfortbildung darf hingegen nicht dazu führen, dass die Gerichte ihre eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzen (...). Die Gerichte dürfen sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen, sondern müssen die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren. Eine Interpretation, die sich über den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers hinwegsetzt, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein (...). [74] Für die Beantwortung der Frage, welche Regelungskonzeption im Gesetz zugrunde liegt, kommt neben Wortlaut und Systematik den Gesetzesmaterialien eine nicht unerhebliche Indizwirkung zu (...) [75] Die Beachtung des klar erkennbaren Willens des Gesetzgebers ist Ausdruck demokratischer Verfassungsstaatlichkeit. Dies trägt dem Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 II 2 GG) Rechnung. (...) [76] 2. Diesen Anforderungen wird die den angegriffenen Entscheidungen zugrunde liegende Auslegung des § 14 II 2 TzBfG durch das Bundesarbeitsgericht nicht gerecht. Sie löst sich von der gesetzgeberischen Grundentscheidung und ersetzt diese durch ein eigenes Regelungsmodell, das der Gesetzgeber erkennbar nicht wollte. Damit sind die Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung durch die Gerichte überschritten. [77] a) In § 14 II 2 TzBfG kommt eine gesetzgeberische Grundentscheidung zum Ausdruck, wonach sachgrundlose Befristungen zwischen denselben Arbeitsvertragsparteien grundsätzlich nur bei der erstmaligen Einstellung zulässig sein sollen. Der Gesetzgeber hat sich damit zugleich gegen eine zeitliche Begrenzung des Verbots entschieden. Jura Intensiv [78] b) Hier ergibt sich der Regelungsgehalt des § 14 II 2 TzBfG zwar nicht eindeutig aus dem Wortlaut der Norm. Auch die Systematik gibt kein zwingendes Ergebnis der Auslegung vor. Doch zeigen die Gesetzesmaterialien und die Entstehungsgeschichte, welche gesetzgeberische Konzeption der Norm zugrunde liegt. Sie dokumentieren die konkrete Vorstellung von Bedeutung, Reichweite und Zielsetzung des § 14 II2 TzBfG, geben dessen Wortlaut („bereits zuvor“) seinen Bedeutungsgehalt und ordnen so dem Gesetzeszweck ein Mittel der Umsetzung zu. [81] bb) Die Gesetzesmaterialien und die Entstehungsgeschichte zeigen demgegenüber deutlich auf, welche gesetzgeberische Konzeption der Norm zugrunde liegt. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 08/2018 Nebengebiete 423 [82] (...) (BTDrucks 14/4374, S. 13 f.). Unter der Überschrift „Einschränkung von Kettenverträgen“ heißt es dort weiter: „Die erleichterte Befristung eines Arbeitsvertrages ist künftig nur bei einer Neueinstellung zulässig, d.h. bei der erstmaligen Beschäftigung eines Arbeitnehmers durch einen Arbeitgeber. Durch diese Einschränkung wird im Unterschied zum bisherigen Recht die theoretisch unbegrenzte Aufeinanderfolge befristeter Arbeitsverträge (Kettenverträge) ausgeschlossen. (...) Bei der nach neuem Recht nur einmaligen Möglichkeit der Befristung ohne Sachgrund wird der Arbeitgeber veranlasst, den Arbeitnehmer entweder unbefristet weiter zu beschäftigen oder bei weiter bestehendem nur vorübergehendem Arbeitskräftebedarf einen anderen Arbeitnehmer befristet einzustellen.“ [83] Diese Ausführungen im Gesetzentwurf der Bundesregierung zeigen, dass zur Verhinderung von Kettenbefristungen den Arbeitsvertragsparteien die Möglichkeit der sachgrundlosen Befristung grundsätzlich nur einmal eröffnet werden sollte. Jedes frühere Arbeitsverhältnis sollte von § 14 II 2 TzBfG unabhängig davon erfasst werden, wie lange es zurückliegt. [86] c) Mit der aus Materialien und Gesetzgebungsgeschichte erkennbaren gesetzgeberischen Grundentscheidung, wonach grundsätzlich jede Vorbeschäftigung bei demselben Arbeitgeber das Verbot einer sachgrundlos befristeten Wiedereinstellung auslöst, unabhängig davon, wie lange die Vorbeschäftigung zurückliegt, ist die Annahme, § 14 II 2 TzBfG erfasse nur Vorbeschäftigungen, die nicht länger als drei Jahre zurückliegen, nicht vereinbar. [87] Das Bundesarbeitsgericht orientiert sich bei der Auslegung von § 14 II TzBfG zwar maßgebend am Grundrecht der Berufsfreiheit in Art. 12 I GG. Es ersetzt das gesetzliche Regelungskonzept der nur einmaligen sachgrundlosen Befristung jedoch durch das Konzept einer wiederholt möglichen sachgrundlosen Befristung nach Einhaltung einer Karenzzeit, das den vom Gesetzgeber gewollten Ausschluss von Kettenbefristungen nicht verwirklicht. Eine derartige Regelung hat im Gesetzgebungsverfahren gerade keine Mehrheit gefunden (vgl. BTDrucks 14/4625, S. 18), was die fachgerichtliche Auslegung nicht beiseiteschieben kann. Das Bundesarbeitsgericht ersetzt die in der Abwägung zwischen den Interessen der Arbeitssuchenden mit Vorbeschäftigung und dem Interesse an sozialer Sicherung durch Erwerbsarbeit zugunsten letzterer getroffene Entscheidung des Gesetzgebers durch eine eigene, gegenläufige Entscheidung. (...) Jura Intensiv In erster Linie schützt die Norm davor, dass die Angewiesenheit auf Erwerbsarbeit durch unmittelbare und verzögerte oder bewusst eingesetzte Kettenbefristungen ausgenutzt wird. Der Gesetzgeber reagiert insofern auf die regelmäßig asymmetrischen Bedingungen in der Erwerbsarbeit und erfüllt damit einen in Art. 12 I GG angelegten Schutzauftrag. Zugleich zielt er auf die soziale Absicherung der abhängig Beschäftigten, weil er die unbefristete Dauerbeschäftigung als Regelbeschäftigungsform erhalten will. Damit will er auch die Leistungsfähigkeit des sozialversicherungsrechtlichen Systems sichern, das sich maßgeblich aus im Arbeitsverhältnis erwirtschafteten Beitragszahlungen finanziert. Das trägt dem Sozialstaatsgebot der Art. 20 I, Art. 28 I GG Rechnung. Daneben steht die beschäftigungspolitische Zielsetzung, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Insofern hat der Gesetzgeber bei der Wahl der Mittel, dieses Ziel zu erreichen, einen großen Spielraum. (…) FAZIT Die vom BAG eingeführte Karenzzeit von 3 Jahren ist mit dieser Entscheidung des BVerfG Rechtsgeschichte. Allerdings hat das BVerfG eine Hintertür aufgestoßen. Diese dürfte künftig erneut Prozesse, Abgrenzungsfragen und Prüfungsaufgaben nach sich ziehen: [62] (dd) Jedoch ist ein Verbot der sachgrundlosen Befristung bei nochmaliger Einstellung bei demselben Arbeitgeber unzumutbar, soweit eine Gefahr der Kettenbefristung in Ausnutzung der © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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