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RA Digital - 08/2022

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426 Öffentliches Recht

426 Öffentliches Recht RA 08/2022 [141] Dabei hat sich die Antragsgegnerin zu I. nicht darauf beschränkt, der Antragstellerin aus Sicht ihrer eigenen Partei, der CDU, die Kooperationsfähigkeit abzusprechen. Vielmehr mündete die streitgegenständliche Äußerung in der Aussage, die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen sei „ein schlechter Tag für die Demokratie“ gewesen. Damit hat die Antragsgegnerin zu I. deutlich gemacht, dass sie die Beteiligung der Antragstellerin an der Bildung parlamentarischer Mehrheiten generell als demokratieschädlich erachtet, und implizit ein insgesamt negatives Werturteil über die Koalitions- und Kooperationsfähigkeit der Antragstellerin im demokratischen Gemeinwesen gefällt. Eingriff (+) Rechtfertigung verlangt kollidierendes Verfassungsgut, das Art. 21 I 1 GG im Rang gleichsteht. Rechtfertigungsgründe: • Handlungsfähigkeit der Bundesregierung • Ansehen Deutschlands in der Welt Handlungsfähigkeit der Bundesregierung nicht gefährdet Ansehen Deutschlands in der Welt nicht gefährdet [144] Die negative Bewertung der Antragstellerin stellt sich als Eingriff in das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe am Prozess der politischen Willensbildung aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG dar. […] [146] […] Die Antragsgegnerin zu I. hat mit ihr die durch das Neutralitätsgebot vorgegebenen inhaltlichen Grenzen ihrer Äußerungsbefugnisse überschritten, indem sie ein negatives Werturteil über die konkret benannte Antragstellerin als eine im politischen Wettbewerb stehende Partei gefällt und ihr jegliche Kooperations- und Koalitionsfähigkeit abgesprochen hat. […]“ III. Rechtfertigung des Eingriffs Der Eingriff in das Recht der AfD aus Art. 21 I 1 GG könnte gerechtfertigt sein. „[92] Der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien unterliegt […] keinem absoluten Differenzierungsverbot. Aufgrund seines formalen Charakters hat aber grundsätzlich jeder Eingriff in die chancengleiche Teilhabe der Parteien am politischen Wettbewerb zu unterbleiben, der nicht durch einen besonderen […] Grund gerechtfertigt ist. Gründe, die Ungleichbehandlungen rechtfertigen und der Bundesregierung eine Befugnis zum Eingriff in die Chancengleichheit der Parteien verleihen, müssen durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sein, das dem Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien die Waage halten kann. […] Jura Intensiv [93] Als derartige gleichwertige Verfassungsgüter kommen der Schutz der Handlungsfähigkeit und Stabilität der Bundesregierung sowie das Ansehen und das Vertrauen in die Verlässlichkeit der Bundesrepublik Deutschland in der Staatengemeinschaft in Betracht. […] [155] Weder aus dem Vorbringen der Antragsgegnerinnen noch im Übrigen ist erkennbar, dass die Äußerung der Antragsgegnerin zu I. zur Sicherung der Arbeitsfähigkeit und Stabilität der Bundesregierung geboten war. Zwar ist die Wahl des Ministerpräsidenten des Freistaats Thüringen durch die Koalitionsparteien auf Bundesebene heftig kritisiert worden und hat zur Einberufung des Koalitionsausschusses geführt. Dass dies zu einer Gefährdung der Stabilität und Handlungsfähigkeit der Bundesregierung geführt hätte […] erschließt sich aber nicht. [163] Ebenso wenig ist erkennbar, dass infolge der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen das Ansehen der und das Vertrauen in die Bundesrepublik Deutschland in der Staatengemeinschaft in einer Weise betroffen waren, dass dadurch die mit der öffentlichen Erklärung der Antragsgegnerin zu I. verbundene Parteinahme zulasten der Antragstellerin gerechtfertigt sein könnte. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 08/2022 Öffentliches Recht 427 [166] Schon angesichts der einmütigen Kritik der die Bundesregierung tragenden Parteien an der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen ist nicht ersichtlich, dass das Ansehen, die außenpolitische Handlungsfähigkeit oder das Vertrauen in die Verlässlichkeit der Bundesrepublik Deutschland in der Staatengemeinschaft […] beschädigt oder auch nur gefährdet waren. […]“ Möglicherweise könnte aber die Befugnis der Bundesregierung zur Öffentlichkeitsarbeit die umstrittene Äußerung rechtfertigen. „[112] Die Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit umfasst die Darlegung und Erläuterung der Politik der Regierung hinsichtlich getroffener Maßnahmen und künftiger Vorhaben angesichts bestehender oder sich abzeichnender Probleme. Dazu gehören auch die Erläuterung und Verteidigung der Regierungspolitik gegen Angriffe und Kritik unter Beachtung des Sachlichkeitsgebots. Die Befugnis zur Öffentlichkeitsarbeit erstreckt sich darüber hinaus auch darauf, außerhalb oder weit im Vorfeld der eigenen gestaltenden politischen Tätigkeit über Fragen und Vorgänge zu informieren, die die Bürger unmittelbar betreffen, sowie auf aktuell streitige oder die Öffentlichkeit erheblich berührende Fragen einzugehen. [114] Zu berücksichtigen ist jedoch, dass die der Bundesregierung […] zukommende Autorität und die Verfügung über staatliche Ressourcen eine nachhaltige Einwirkung auf die politische Willensbildung des Volkes ermöglichen, die das Risiko erheblicher Verzerrungen des politischen Wettbewerbs […] beinhaltet. Als Teil des politischen Prozesses einer freiheitlichen Demokratie […] ist es zwar hinzunehmen, dass das Regierungshandeln sich in erheblichem Umfang auf die Wahlchancen der im politischen Wettbewerb stehenden Parteien auswirkt. Davon zu unterscheiden ist aber der zielgerichtete Eingriff der Bundesregierung in den Wettbewerb der politischen Parteien. Es ist der Bundesregierung, auch wenn sie von ihrer Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit Gebrauch macht, von Verfassungs wegen versagt, sich mit einzelnen Parteien zu identifizieren und die ihr zur Verfügung stehenden staatlichen Mittel und Möglichkeiten zu deren Gunsten oder Lasten einzusetzen. Jura Intensiv [115] Demgemäß endet die Zulässigkeit der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung dort, wo Werbung für oder Einflussnahme gegen einzelne im politischen Wettbewerb stehende Personen oder Parteien beginnt. […]“ Demnach liegt ein nicht gerechtfertigter Eingriff in das Recht der AfD aus Art. 21 I 1 GG vor, sodass sie in ihrem Recht auf Chancengleichheit verletzt ist. FAZIT Festzuhalten bleibt, dass das BVerfG an Äußerungen der Bundeskanzlerin die gleichen Maßstäbe anlegt wie an die Äußerungen der Bundesminister. Ferner benennt das Gericht Gründe, die einen Eingriff in Art. 21 I 1 GG rechtfertigen können, wozu allerdings die Befugnis zur Öffentlichkeitsarbeit nicht gehört. Die Tatsache, dass der 2. Senat den Verfassungsverstoß mit 5:3 Stimmen festgestellt hat zeigt im Übrigen, dass in einer Klausur das gegenteilige Ergebnis ohne Weiteres vertretbar wäre. Inhalt der Befugnis zur Öffentlichkeitsarbeit Gefahr der Verzerrung des politischen Wettbewerbs Konsequenz: Befugnis zur Öffentlichkeitsarbeit rechtfertigt nicht Parteinahme im politischen Wettbewerb. Ebenfalls unzulässig war die Veröffentlichung der Äußerung auf den Internetseiten der Bundeskanzlerin und der Bundesregierung (Rn 174-184 des Urteils). © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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