Aufrufe
vor 3 Jahren

RA Digital - 09/2020

Die Ausbildungszeitschrift von Jura Intensiv.

464 Zivilrecht

464 Zivilrecht RA 09/2020 Die ex-ante-Sicht zählt! Ruks, Die Haftung für außergewöhnliche Umstände, 2020, 66 ff. Wichtig: Entscheidend sind die Verhältnisse zur Zeit der Rücktrittserklärung am 07.03.2020. Wichtig: Es kommt nicht zwingend auf das Vorliegen einer Reisewarnung an. So stellte sich die Tatsachenlage in Italien, die Pandemie betreffend, dar. Auch bei einer ex-ante-Betrachtung durfte K hier von außergewöhnlichen Umständen im Reisegebiet ausgehen, denn eine Verschlechterung der Lage war wahrscheinlich. [22] In Bezug auf die Corona-Krise kommt es für die Beurteilung, ob ein außergewöhnliches Ereignis vorliegt/vorlag darauf an, wann der Reisende zurückgetreten ist und ob die Gegebenheiten zu dieser Zeit bereits als außergewöhnliche Umstände zu qualifizieren sind. Hier verbietet sich jede schematische Betrachtung, maßgeblich bleiben vielmehr die Geschehnisse des konkreten Einzelfalles. In diesem Zusammenhang ist für die Bewertung der Zeitpunkt der Ausübung des Gestaltungsrechts maßgeblich. Es handelt sich um eine Prognoseentscheidung, für die es auf eine ex-ante-Betrachtung ankommt. [23] Im Falle eines „übereilten“ Rücktritts fällt in aller Regel eine Entschädigung gemäß § 651h Abs. 1 Satz 3 BGB an. Daran ändert sich nichts, wenn sich im Nachhinein eine Betroffenheit der späteren Reise von außergewöhnlichen Ereignissen ergibt und sich der Rücktritt ex-post darauf stützen ließe. (…). Umgekehrt mag (je nach Einzelfall) bei einer ab April 2020 vorgesehenen Reise und einem Rücktritt ab März 2020 die Prognose zutreffend erscheinen, dass eine Beeinträchtigung des Arrangements durch außergewöhnliche Umstände vorliegen wird. Letzteres trifft auch im vorliegenden Fall zu. [24] (…) Erforderlich ist hierbei nicht zwingend, dass zum Zeitpunkt des Rücktritts bereits Reisewarnungen für das Reisegebiet vorliegen oder dass das Zielgebiet von dem Ausbruch betroffen ist. Vielmehr genügt zur dahingehenden Einordnung bereits eine gewisse Wahrscheinlichkeit für eine gesundheitsgefährdende Ausbreitung. Zurzeit der Rücktrittserklärung am 07.03.2020 war die Lage Italiens durch die deutschen Medien bekannt. Das Virus SARS-CoV-2 breitete sich dort aus, das Gesundheitssystem war in Norditalien so überlastet, dass viele Patienten nicht oder nicht angemessen behandelt werden konnten. Vielerorts fehlten oder fehlen Schutzmasken. Am 4. März 2020 wurden in ganz Italien Schulen und Universitäten geschlossen. Der Zugang zu Privatkliniken und Hospizen wurde eingeschränkt, und Begleitpersonen wurde der Zugang zu den Notaufnahmen von Kliniken verboten. Empfohlen wurde der Mindestabstand von einem Meter zwischen Personen. Verhängt wurde das Ausgangsverbot bei jeglichem Fieber oder Infektionsverdacht, das Zuhausebleiben aller Personen ab 75 Jahren sowie Personen ab 65 Jahren mit gesundheitlichen Einschränkungen. Zwei Tage nach dem Rücktritt wurde Italien zur Sperrzone erklärt. Jura Intensiv [27] Dies alles durfte den Kläger in seiner Email vom 07.03.2020 ex ante zu Recht zu der Einschätzung gelangen lassen, dass in Italien - also auch im Reisegebiet - außergewöhnliche Umstände vorliegen, die die Durchführung der Pauschalreise bzw. den Flug nach Neapel erheblich beeinträchtigen werden. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass im März die Pandemie erst begann und mit einer Verschlechterung der Lage zu rechnen war. Die Vorkommnisse in Italien unterlagen auch nicht der Kontrolle des Klägers und hätten sich auch nicht vermeiden lassen, wenn er gewisse Vorkehrungen getroffen hätte. [28] Insgesamt war die Beklagte mithin nicht dazu berechtigt, Teile des Reisepreises im Rahmen der Stornierung zurück zu halten. Somit steht gem. § 651h III BGB der B keine Stornierungsgebühr zu. B. Ergebnis: K hat gegen B einen Anspruch auf ungekürzte Rückzahlung der Anzahlung aus §§ 346 I, 651a, 651h BGB. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 09/2020 Referendarteil: Zivilrecht 465 Speziell für Referendare Problem: Medikamenten-Kaufvertrag zwischen Apotheker und Patient in Arztpraxis Einordnung: BGB AT, Schuldrecht AT OLG Stuttgart, Urteil vom 30.06.2020 6 U 156/19 EINLEITUNG Unabhängig davon, dass eine ärztliche Praxis selbstverständlich ebenfalls ein wirtschaftlicher und damit auf Gewinnerzielung gerichteter Betrieb ist, dürfen Patienten erwarten, dass medizinische Entscheidungen ausschließlich in ihrem Interesse erfolgen. Daher sieht der Gesetzgeber vor, dass der Arzt unabhängig von Zulieferern von Medikamenten sein soll. Hierzu heißt es in § 11 I 1 ApoG: „(…) Apotheken dürfen mit Ärzten (…) keine Rechtsgeschäfte vornehmen oder Absprachen treffen, die (…) die Zuführung von Patienten, die Zuweisung von Verschreibungen (…) zum Gegenstand haben. Dieses „Ärztebevorzugungsverbot“ soll Sicherheit für den Patienten schaffen. In diesem Kontext steht der folgende Fall. TATBESTAND Der Kläger (K) betreibt eine Apotheke in S. Der Beklagte (B) ist privatversicherter Patient einer sich im selben Gebäude befindlichen allgemeinmedizinischen ärztlichen Praxis des A. In der Praxis werden – als Auftragsformular bezeichnete – Dokumente verwendet, welche den Patienten ausgehändigt werden. Diese sollen unter dem Freifeld „Auftraggeber“ ihren Namen eintragen. Als Auftragnehmer ist stets der Kläger angegeben. Das zu liefernde Medikament wird auf dem Vordruck nicht genannt. Hierzu heißt es in dem Dokument lediglich, dass die Verschreibung des behandelnden Arztes maßgeblich ist und der Kaufpreis in Höhe des Listenpreises vereinbart wird. Im Rahmen eines Untersuchungstermines bei A füllte B den zuvor genannten Vordruck mit seinem Namen und seiner Adresse aus und gab dies unterschrieben an der Rezeption zurück. Nach der Untersuchung stellte A dem B ein Rezept für das Medikament „XYZ, Menge XX“ aus. Dem B wurde das Medikament in der Arztpraxis unmittelbar ausgehändigt. Hierbei handelte es sich um getrennt- und originalverpackte Einzelampullen mit Namens-Etiketten des B und Sicherheitsverschlüssen. Die Mitarbeiterin (M) des K setzte einen Quittungstempel mit aktuellem Tagesdatum auf das ausgestellte Rezept. B erhielt am (…) eine Rechnung über 12.177,86 € samt quittiertem Rezept. Der Preis ist für die überreichten Medikamente marktüblich. Am (…) übersendet B an K ein als Widerruf bezeichnetes und von ihm unterschriebenes Dokument bezüglich des von ihm unterschriebenen Auftragsformulars vom (…). Jura Intensiv K behauptet, dass B zu keinem Zeitpunkt eine Zahlung bezüglich der gelieferten Medikamente geleistet habe. K vertritt die Rechtsansicht, dass der Quittungsstempel in diesem Zusammenhang nicht aussagekräftig sei, da dieser üblicherweise sofort auf jedes Rezept nach Aushändigung der Medikamente gesetzt werde. LEITSATZ § 12 ApoG ist nicht analog dahingehend anzuwenden, dass ein in Zusammenarbeit zwischen einem Arzt und einem Apotheker erstellter Kaufvertrag zwischen dem Apotheker und dem Patienten nichtig ist. Ein gemäß § 312b I Nr. 1 BGB ggf. bestehendes Widerrufsrecht erlischt gemäß § 312g II Nr. 3 BGB durch das Öffnen der Medikamentenpackung. Ein routinemäßig auf dem Rezept vom Apothekenpersonal angebrachter Quittungsstempel beweist keinen Zahlungseingang bezüglich des Kaufes der Medikamente. Vermeiden Sie rechtliche Wertungen im unstreitigen Sachverhalt. Das Unstreitige wird im Indikativ Imperfekt dargestellt. Ausnahme – insbesondere hier – sind Umstände, die sich auf die Gegenwart beziehen. Der streitige Klägervortrag wird im Präsens und indirekter Rede dargestellt. Trennung zwischen Tatsachenvortrag und Rechtsansichten. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

RA - Digital

Rspr. des Monats