Aufrufe
vor 3 Jahren

RA Digital - 09/2020

Die Ausbildungszeitschrift von Jura Intensiv.

480 Öffentliches Recht

480 Öffentliches Recht RA 09/2020 2. Beeinträchtigung der Programmfreiheit der Parteien, indem Personalauswahl vorgegeben wird Art. 21 I 3 GG kein Gegenargument 3. Beeinträchtigung des Rechts auf Chancengleichheit bei Parteien, • deren Mitglieder überwiegend Frauen oder Männer sind • die wenig Mitglieder haben • die programmatisch verstärkt Frauen oder Männer fördern möchten Neben der Betätigungsfreiheit wird auch die Programmfreiheit der Parteien beeinträchtigt. Das Paritätsgesetz verpflichtet Parteien zwar nicht dazu, bestimmte Inhalte in ihre jeweiligen Parteiprogramme aufzunehmen. Aber es hindert Parteien daran, Inhalte und Aussagen ihres Programms mit einer spezifischen geschlechterbezogenen Besetzung ihrer Listen zu untermauern. […] Diese Beeinträchtigung der Programmfreiheit kann […] nicht mit dem Argument verneint werden, es sei verfassungsrechtlich unzulässig, eine reine Männerpartei oder eine reine Frauenpartei zu gründen, da eine solche Partei mit Geschlechterexklusivität gegen Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG verstoße […]. Bei dieser Argumentation wird übersehen, dass sich die „demokratischen Grundsätze“ im Sinne des Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG auf das Verfahren der politischen Meinungs- und Willensbildung beziehen […]. Die Frage der […] Gleichberechtigung der Geschlechter […] ist aber keine der „demokratischen Grundsätze“ […]. Sie wird von diesen nicht mitumfasst. Schließlich geht mit dem Paritätsgesetz eine Beeinträchtigung des Rechts der Parteien auf Chancengleichheit einher. […] Dieser Anspruch wird infolge des Paritätsgesetzes zunächst bei solchen Parteien beeinträchtigt, die einen wesentlich höheren Anteil eines Geschlechts unter ihren Mitgliedern haben. In einem solchen Fall müssen sie unter Umständen entweder mit erheblich weniger Kandidatinnen oder Kandidaten antreten als sie möglicherweise in das Parlament bringen könnten oder aber aus dem kleineren Anteil des anderen Geschlechts mit nicht zu vernachlässigender Wahrscheinlichkeit aus Sicht der jeweiligen Partei weniger gut geeignete Kandidatinnen oder Kandidaten zur Wahl vorschlagen. Darüber hinaus wirkt sich das Gesetz auch für Parteien mit einer geringen Mitgliederanzahl benachteiligend aus. Für sie besteht die Gefahr, dass sie nicht alle Listenplätze besetzen und damit weniger Kandidatinnen oder Kandidaten in ein Parlament bringen können, als sie dies ohne das Paritätsgesetz tun könnten. Nicht zuletzt liegt eine Beeinträchtigung des Anspruchs auf Chancengleichheit […] darin, dass das Paritätsgesetz sich auch in programmatischpersoneller Hinsicht in ungleicher Weise auswirkt. Es trifft solche Parteien stärker, die sich die besondere Förderung eines Geschlechts auf ihre Fahnen geschrieben haben und dies durch eine durchgängige Besetzung vorderer Listenplätze durch Vertreter dieses Geschlechts zum Ausdruck bringen wollen.“ Jura Intensiv Folglich beeinträchtigt das Paritätsgesetz auch Art. 21 GG in mehrfacher Hinsicht. Voraussetzung für Rechtfertigung: Zwingender Grund/besonders zwingender Grund (VerfGH Thüringen, Urteil vom 8.7.2016, VerfGH 38/15, juris Rn 30; Urteil vom 11.4.2008, VerfGH 22/05, juris Rn 50) III. Rechtfertigung der Beeinträchtigungen Die aufgezeigten Beeinträchtigungen könnten gerechtfertigt sein. Das verlangt das Vorliegen eines zwingenden Grundes bzw. hinsichtlich der Chancengleichheit der Parteien eines besonders zwingenden Grundes. 1. Demokratieprinzip Möglicherweise kann das in Art. 45 S. 1 ThürVerf zum Ausdruck kommende Demokratieprinzip die Beeinträchtigungen rechtfertigen. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 09/2020 Öffentliches Recht 481 „Nach Auffassung der […] Landesregierung, fordert allerdings der im Demokratieprinzip verankerte Anspruch auf gleichberechtigte demokratische Teilnahme und effektive Einflussnahme, dass die gesellschaftspolitischen Perspektiven der Bürgerinnen und Bürger im Parlament gleichmäßig ‚gespiegelt‘ werden können. […] Eine solche „Spiegelungstheorie“ ist dem deutschen Verfassungsrecht jedoch fremd. Dem Bundesverfassungsrecht zufolge ist dem in Art. 20 Abs. 2 GG und Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltenen Prinzip der Repräsentation ein Organisationsmodell zu entnehmen, welches dem Volk die maßgebliche Bestimmungsmacht über die staatliche Gewalt verschaffen soll. Nach diesem Prinzip vertritt jede und jeder Abgeordnete das gesamte Volk und ist diesem gegenüber verantwortlich. […] Im Parlament schlagen sich die parteipolitischen Präferenzen des Volkes nieder, nicht dessen geschlechtermäßige, soziologische oder sonstige Zusammensetzung. Dieses vom Bundesverfassungsgericht mit Blick auf das Grundgesetz erkannte Verständnis demokratischer Repräsentation liegt auch dem thüringischen Verfassungsrecht zugrunde, da die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern aufgrund des grundgesetzlichen Homogenitätsgebotes (Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) den demokratischen Grundsätzen des Grundgesetzes entsprechen muss und der thüringische Verfassungsgeber diesem Gebot mit Art. 45 ThürVerf sowie Art. 53 Abs.1 Satz 1 ThürVerf auch entsprochen hat. […]“ Somit kann das Demokratieprinzip die Beeinträchtigungen nicht rechtfertigen. 2. Sicherung der Wahl als Integrationsvorgang Der Charakter einer Wahl als Integrationsvorgang könnte aber ein ausreichender Rechtfertigungsgrund sein. „Es trifft zwar zu, dass in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Sicherung der Wahl als Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung als zwingender Grund anerkannt ist, der Beeinträchtigungen der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit von Parteien rechtfertigen kann. Diese Rechtfertigung zielt jedoch auf die Integration politischer Kräfte, nicht dagegen auf eine Integration des männlichen und weiblichen Geschlechts. […]“ Jura Intensiv Verlangt das Demokratieprinzip, dass sich im Parlament die Zusammensetzung der Bevölkerung spiegelt? Nein, die Wahl soll nach parteipolitischer Vorliebe erfolgen Übertragung der Respr. des BVerfG auf Thüringen Art. 53 I 1 ThürVerf: „Die Abgeordneten sind die Vertreter aller Bürger des Landes.“ Vgl. BVerfG, Urteil vom 23.1.1957, 2 BvE 2/56, juris Rn 28; Beschluss vom 4.7.2012, 2 BvC 2/11, juris Rn 32 Integration = Integration politischer Kräfte, nicht des Geschlechts Demnach kann der Integrationscharakter einer Wahl die vorliegenden Beeinträchtigungen nicht rechtfertigen. 3. Art. 2 II 2 ThürVerf Schließlich kommt noch eine Rechtfertigung durch die Bestimmung des Art. 2 II 2 ThürVerf in Betracht. „[…] Dem Wortlaut dieser Verfassungsnorm zufolge handelt es sich um eine Staatszielbestimmung, die kein subjektives Recht begründet. Dem Ziel, die tatsächliche Gleichstellung zu fördern, entspricht ein Hinwirkungsgebot, dem Ziel, sie zu sichern, ein Rückschrittsverbot. Art. 2 II 2 ThürVerf: „Das Land, seine Gebietskörperschaften und andere Träger der öffentlichen Verwaltung sind verpflichtet, die tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern in allen Bereichen des öffentlichen Lebens durch geeignete Maßnahmen zu fördern und zu sichern.“ © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

RA - Digital

Rspr. des Monats