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RA Digital - 09/2022

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480 Öffentliches Recht

480 Öffentliches Recht RA 09/2022 Folglich steht § 43 II 1 VwGO der Zulässigkeit der Feststellungklage der K nicht entgegen. Da die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen unproblematisch sind, ist die Feststellungsklage der K zulässig. Obersatz (vgl. Kues/Schildheuer, JURA INTENSIV, Verwaltungsprozessrecht, Rn 294) Vorab: Klärung der Begrifflichkeit Oberbegriff: Protestcamp Merkmale eines Protestcamps Besondere Problematik der Protestcamps Unterfällt das Klimacamp dem Schutzbereich des Art. 8 I GG? „Klassische“ Versammlungen Aber: Weiterentwicklungen sind möglich Folge: Längere Dauer eines Protestcamps spricht nicht automatisch gegen Einordnung als Versammlung. B. Begründetheit der Klage Die Feststellungsklage ist begründet, soweit das umstrittene Rechtsverhältnis bestand. Das ist der Fall, wenn das 800 Meter entfernte Feld, das als Fläche für Übernachtungszelte von Versammlungsteilnehmern und für Sanitäreinrichtungen des Klimacamps genutzt wurde (Flurstück 65), von dem Schutz durch Art. 8 GG umfasst war. I. Einordnung des Klimacamps als sog. Protestcamp „[17] Das Klimacamp unterfiel der Kategorie der sog. Protestcamps. Bei diesen Camps handelt es sich um eine neuere, zunehmende Verbreitung findende Form kollektiven Protests. Sie werden typischerweise an einem Ort veranstaltet, der einen Bezug zu dem jeweils inmitten stehenden Thema hat. Der Charakter der Protestcamps wird allerdings mehr noch als durch ihren Ortsbezug durch ihre zeitliche Dauer geprägt. Es handelt sich um Veranstaltungen mit einer zeitlichen Perspektive von einigen Tagen bis in Einzelfällen auch zu mehreren Jahren. Aus diesem Charakter als Dauerveranstaltungen erwächst ein spezifischer Bedarf der Campteilnehmer an Infrastruktur, insbesondere in Form von Verpflegungs-, Übernachtungs- und Sanitäreinrichtungen, die am Veranstaltungsort der Camps in erheblichem Umfang Raum in Anspruch nehmen können. […]“ II. Klimacamp als Versammlung i.S.v. Art. 8 GG Fraglich ist, ob das Klimacamp als Versammlung i.S.v. Art. 8 GG anzusehen ist. Sollte das nicht der Fall sein, kann die streitgegenständliche Übernachtungsstätte, die zur Durchführung des Klimacamps genutzt wurde, ebenfalls nicht dem grundrechtlichen Schutz der Versammlungsfreiheit unterfallen. Jura Intensiv „[20] In ihrer nach herkömmlichem Verständnis idealtypischen Ausformung als Demonstration besteht eine Versammlung in der gemeinsamen körperlichen Sichtbarmachung von Überzeugungen, wobei die Teilnehmer einerseits in der Gemeinschaft mit anderen eine Vergewisserung dieser Überzeugungen erfahren und andererseits nach außen - schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und des Umgangs miteinander oder die Wahl des Ortes - im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen. […] [21] Der Versammlungsbegriff ist generell offen für Fortschreibungen. […] [22] Vor dem Hintergrund des in Art. 8 GG wurzelnden Rechts des Veranstalters einer Versammlung, selbst unter anderem über deren Zeitpunkt und damit auch über deren Dauer zu bestimmen, sowie dem hieraus weithin abgeleiteten Grundsatz, dass es keine zeitlichen Höchstgrenzen für Versammlungen gibt, steht allein der Charakter eines Protestcamps als einer auf längere Dauer angelegten Veranstaltung seiner rechtlichen Einordnung als Versammlung grundsätzlich nicht entgegen. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 09/2022 Öffentliches Recht 481 [23] Im Rahmen der […] rechtlichen Beurteilung, ob eine Veranstaltung den Versammlungsbegriff erfüllt, kann eine andere Annahme in dem Fall eines Camps mit einer absehbar sehr langen, etwa auf viele Monate oder gar Jahre angelegten Dauer gerechtfertigt sein. Eine solche extrem lange Dauer kann ein Indiz dafür sein, dass mit dem Camp tatsächlich kein versammlungsspezifischer Zweck verfolgt wird. In diesem Zusammenhang kommt es auf die Erklärungen an, die der Veranstalter bei der Anmeldung oder im Rahmen von anschließenden Kooperationsgesprächen gegenüber der Versammlungsbehörde abgegeben hat. Der Veranstalter eines Protestcamps muss zwar nicht - gleichsam einem Schema gehorchend - mit der Anmeldung ein lückenloses Konzept mit konkreten Programmpunkten vorlegen. Seinen Angaben muss sich jedoch nach objektivem Verständnis ein auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteter kommunikativer Zweck entnehmen lassen. Da es sich bei einem Protestcamp um eine Dauerveranstaltung handelt, ist der Veranstalter gehalten, den versammlungsspezifischen Zweck im Sinne einer auf die voraussichtliche Dauer bezogenen Gesamtkonzeption zu substantiieren. [24] Zur Verhinderung von durch die Dauer eines Protestcamps hervorgerufenen, nicht hinnehmbaren Beeinträchtigungen von Rechten Dritter oder öffentlichen Belangen bedarf es keines Ansetzens an dem Versammlungsbegriff. Denn die Versammlungsbehörde kann das Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters über die Dauer einer als Versammlung zu qualifizierenden Veranstaltung nach § 15 Abs. 1 VersammlG bei einer unmittelbaren Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung in angemessener Weise einschränken. Der Erlass einer die Dauer eines Protestcamps beschränkenden Verfügung stellt ein probates Mittel dar, um unter Berücksichtigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls eine praktische Konkordanz zwischen dem durch eine solche Veranstaltung ausgeübten Grundrecht der Versammlungsfreiheit und den Rechten Dritter sowie den betroffenen öffentlichen Belangen herzustellen. Dabei erlangen die letztgenannten Rechte und Belange im Rahmen der Abwägung ein umso höheres Gewicht, je länger ein Protestcamp absehbar dauern wird. Jura Intensiv [25] Das Oberverwaltungsgericht ist auf der Grundlage der von ihm bindend festgestellten Tatsachen durch eine nicht zu beanstandende Einzelfallwürdigung zu der Einschätzung gelangt, dass es sich bei dem Klimacamp um eine Versammlung im Sinne des Art. 8 GG und des Versammlungsgesetzes gehandelt hat. [26] Das Oberverwaltungsgericht hat für die Beurteilung der Versammlungseigenschaft des Klimacamps nicht nur das Flurstück 55 als das eigentliche Veranstaltungsgelände, sondern auch die für die Übernachtung von Campteilnehmern genutzten Flächen - den dem Veranstaltungsgelände benachbarten Sportplatz in E. und das 800 Meter entfernte Flurstück 65 - in den Blick genommen. Es hat die […] Tatsachenfeststellung getroffen, dass diese Flächen eine räumliche Einheit gebildet haben. Das Oberverwaltungsgericht hat ferner in tatsächlicher Hinsicht bindend festgestellt, dass die Aktivitäten auf dem Flurstück 55 nach objektivem Verständnis des von der Klägerin im Zusammenhang mit der Versammlungsanmeldung dargelegten Gesamtkonzepts während der gesamtem vorgesehenen zwölftägigen Dauer des Camps am Ort des Aber: Sehr lange Dauer kann dafür sprechen, dass kein versammlungsspezifischer Zweck verfolgt wird • Veranstalter trifft Substanziierungspflicht. Begrenzung der Dauer eines Protestcamps nicht auf Schutzbereichs-, sondern auf Rechtfertigungsebene durch Maßnahmen nach § 15 VersammlG (bzw. die Parallelvorschriften im jeweiligen Landes-VersammlG). Je länger das Protestcamp dauert, desto eher kann es zeitlich begrenzt werden. Subsumtion: „Klimacamp 2017“ war Versammlung i.S.v. Art. 8 GG. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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