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RA Digital - 09/2022

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484 Öffentliches Recht

484 Öffentliches Recht RA 09/2022 Problem: Anspruch auf Einschreiten der Versammlungsbehörde Einordnung: Versammlungsrecht OVG Münster, Urteil vom 07.06.2022 15 A 2100/18 LEITSÄTZE 1. Ein Anspruch eines Dritten auf Einschreiten der Versammlungsbehörde auf der Grundlage von § 15 Abs. 1 VersammlG besteht nur dann, wenn die Versammlung subjektiv-öffentliche Rechte (als Bestandteil der öffentlichen Sicherheit) unmittelbar gefährdet und überdies die Situation einer Ermessensreduzierung auf Null gegeben ist. 2. […] 3. Für die Beantwortung der Frage nach einer rechtsfehlerfreien Ermessensausübung ist von maßgebender Bedeutung, in welchem Umfang die Versammlung gegen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung verstößt. Bei hoher Intensität der Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung kann sich die Entschließung der Behörde zum Nichteinschreiten als Ermessensfehler erweisen. 4. Versammlungsbedingte reflexhafte und sozialadäquate Beeinträchtigungen von Gewerbetreibenden, Verkehrsteilnehmern und Anwohnern durch Versammlungen haben regelmäßig nicht das Gewicht, dass die Versammlung verboten oder beschränkende Auflagen erlassen werden könnten; sie sind von den Betroffenen hinzunehmen. Für unzumutbare Beeinträchtigungen durch Versammlungen gilt dies hingegen nicht. EINLEITUNG Auch das Urteil des OVG Münster befasst sich mit der Versammlungsfreiheit, und zwar mit der examensrelevanten Frage, wann eine Einzelperson einen Anspruch auf Erlass von Beschränkungen gegen den Veranstalter einer Versammlung hat. SACHVERHALT Der Kläger (K) betreibt eine Ponyreitbahn für Kinder und nahm im Jahr 2017 an der Kirmes in der Stadt T teil. Eine Tierschutzorganisation (P) meldete daraufhin 4 Versammlungen bei der zuständigen Behörde an, mit der an mehreren Wochenendtagen gegen die Ponyreitbahn des K demonstriert werden sollte. Als Demonstrationsmittel gab P eine mobile Lautsprecherbox, Megafone, Transparente, Flugblätter und Fahnen an. Die Versammlungsteilnehmer sollten sich teilweise schräg gegenüber und teilweise direkt vor dem Betrieb des K postieren. Die zuständige Behörde untersagte daraufhin die Nutzung der Lautsprecherbox und der Megafone auf dem Kirmesgelände, weil dies unzulässig in die Berufsfreiheit des K eingreife. K genügten diese Beschränkungen jedoch nicht, er beantragte die Verlegung der Versammlung an einen Ort außerhalb des Kirmesgeländes, was jedoch erfolglos blieb. Die Versammlungen wurden folglich unter Beachtung der behördlich verfügten Beschränkungen durchgeführt, wobei Polizeikräfte zum Einsatz kamen, um die Versammlung von einer Gegendemonstration von Schaustellern zu trennen. K ist der Ansicht, durch die Art und Weise der Versammlungen werde sein Betrieb in seiner wirtschaftlichen Existenz gefährdet. Eltern würden mit ihren Kindern die Ponyreitbahn nicht besuchen, wenn sie zuvor die Versammlung der P passieren müssten. Auch die Polizeipräsenz sei hier nicht hilfreich, sondern wirke eher einschüchternd. In der Sache träfen die Vorwürfe der P nicht zu, er (K) führe sein Unternehmen seit Jahrzehnten ohne behördliche Beanstandungen. Weiterhin sei das Kirmesgelände der Ausübung der Versammlungsfreiheit schon dem Grunde nach entzogen, weil es nicht der Durchführung von Versammlungen diene. Im Übrigen beruft sich K auch auf § 17 VersammlG. Hatte K einen Anspruch auf Verlegung der Versammlung an einen Ort außerhalb des Kirmesgeländes? Jura Intensiv LÖSUNG K hatte einen solchen Anspruch, wenn dafür eine Anspruchsgrundlage bestand, deren Voraussetzungen vorlagen. Zum Zeitpunkt des Urteils bestand in NRW noch kein LandesversammlungsG, sodass gem. Art. 125a I 1 GG das VersammlG des Bundes anzuwenden war. I. Anspruchsgrundlage K könnte ein Anspruch auf Erlass der begehrten Versammlungsbeschränkung aus § 15 I VersammlG (i.V.m. Art. 125a I 1 GG) zugestanden haben. Das setzt voraus, dass die Vorschrift zugunsten des K ein subjektiv-öffentliches Recht Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 09/2022 Öffentliches Recht 485 beinhaltet. Das wiederum bemisst sich nach der sog. Schutznormtheorie. Danach verleiht eine Norm ein subjektiv-öffentliches Recht, wenn sie zumindest auch dem Schutz von Individualinteressen dient und der Anspruchsteller zum geschützten Personenkreis gehört, was im Wege der Auslegung der Norm zu ermitteln ist. § 15 I VersammlG schützt mit dem Tatbestandsmerkmal „öffentliche Sicherheit“ u.a. die Individualrechtsgüter. Sollte im konkreten Fall ein Individualrechtsgut des K gefährdet gewesen sein, vermittelte ihm § 15 I VersammlG einen Anspruch gegen die Verwaltung auf ermessensfehlerfreie Entscheidung. Hier kam eine Gefährdung der Individualrechtsgüter des K aus Art. 12 I GG in Betracht. Somit stellt § 15 I VersammlG für K die Anspruchsgrundlage dar. II. Anspruchsvoraussetzungen Die formellen Anspruchsvoraussetzungen lagen vor, insbesondere hatte sich K an die zuständige Versammlungsbehörde gewandt. Darüber hinaus müssen auch die materiell-rechtlichen Anforderungen des § 15 I VersammlG erfüllt gewesen sein. 1. Versammlung Bei der Veranstaltung der P muss es sich um eine Versammlung i.S.v. § 15 I VersammlG gehandelt haben. Eine Versammlung ist das Zusammenkommen mehrerer Personen, zwischen denen eine innere Verbindung besteht. Fraglich ist, ob darüber hinaus noch ein bestimmter Zweck verfolgt werden muss. Nach der restriktivsten Rechtsauffassung müssen öffentliche Angelegenheiten diskutiert werden (sog. enger Versammlungsbegriff). Diese Voraussetzungen erfüllte die Veranstaltung der. Folglich handelte es sich um eine Versammlung. 2. Öffentlich/ unter freiem Himmel Aufgrund der amtlichen Überschrift des Abschnitts III. des VersammlG muss die Versammlung öffentlich sein und unter freiem Himmel stattgefunden haben. Öffentlich ist eine Versammlung, wenn sich jedermann an ihr beteiligen kann. Sie findet ferner unter freiem Himmel statt, wenn keine seitlichen Begrenzungen bestehen. Beide Voraussetzungen erfüllte die Versammlung der P. Jura Intensiv 3. Unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung Gem. § 15 I VersammlG muss die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet sein. Wie oben gezeigt hat § 15 I VersammlG nur Anspruchsqualität, wenn die Gefahr einem Individualrechtsgut droht. Dabei sind angesichts des besonderen Wertgehalts der Versammlungsfreiheit in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung strenge Anforderungen an die Gefahrenprognose zu stellen. Bloße Verdachtsmomente oder Vermutungen sind nicht ausreichend. Stattdessen müssen gesicherte Erkenntnisse vorliegen, dass es bei Durchführung der konkreten Versammlung jederzeit zu einem Schaden für das zu schützende Rechtsgut kommen kann. „[…] waren die Versammlungen der Beigeladenen aufgrund der Art und Weise ihrer Durchführung in der konkreten Versammlungssituation geeignet, den durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Ponyreitbahnbetrieb des Klägers in erheblicher Weise zu beeinträchtigen. Die Beeinträchtigung ergab sich aus einer Zusammenschau der einzelnen Ganz wichtig: Schutznormtheorie Ob die Gefahr wirklich vorliegt, ist erst i.R.d. Anspruchsvoraussetzungen zu klären. Definition „Versammlung“ (vgl. Schildheuer, JURA INTENSIV, Grundrechte, Rn 463-469) Unproblematisch, daher kurz abhandeln Schildheuer, JURA INTENSIV, Grundrechte, Rn 495, 502 Ebenfalls unproblematisch Voraussetzung: Gefahr für Individualrechtsgut BVerfGE 69, 315, 353 f. Subsumtion Wichtig ist es, die Art und Weise der Durchführung der konkreten Versammlung genau zu benennen, um zu klären, ob sich die Versammlung gegen den Kläger richtete. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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