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RA Digital - 10/2016

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534 Öffentliches Recht

534 Öffentliches Recht RA 10/2016 Alternativ können die nachfolgenden Überlegungen auch erst beim Prüfungspunkt „Ungleichbehandlung“ angestellt werden. Im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde wäre auch schon eine Darstellung beim Prüfungspunkt „Beschwerdegegenstand“ möglich. Zentrales Argument: Art. 1 III GG Vgl. BVerfGE 128, 226, 244 - „Fraport“ Wiederholung der „Fraport-Respr.“ Ganz wichtig! Kernaussage der Entscheidung: Der Staat ist immer an die Grundrechte gebunden, unabhängig davon, in welcher Organisationsform er auftritt und wie er handelt (Fortsetzung der „Fraport-Respr.“). Fraglich ist jedoch, ob das Grundrecht inhaltlich Anwendung findet. Dagegen könnte sprechen, dass das Freizeitbad als GmbH betrieben wird und seine Leistungen nicht dem Bereich der Daseinsvorsorge zuzurechnen sind, sondern es sich um eine rein wirtschaftliche („fiskalische“) Tätigkeit handelt. „[25] In privatrechtlichen Organisationsformen geführte Unternehmen, die vollständig im Eigentum des Staates stehen (öffentliche Unternehmen), sind unmittelbar an die Grundrechte gebunden. Für eine bloß mittelbare Berücksichtigung der Grundrechte im Verhältnis öffentlicher Unternehmen zu Grundrechtsberechtigten im Privatrechtsverkehr ist daher kein Raum. [26] Art. 1 Abs. 3 GG ordnet die umfassende Grundrechtsbindung aller staatlichen Gewalt an. Die Grundrechte gelten nicht nur für bestimmte Bereiche, Funktionen oder Handlungsformen staatlicher Aufgabenwahrnehmung, sondern binden die staatliche Gewalt umfassend und insgesamt. Der Staat und andere Träger öffentlicher Gewalt können im Rahmen ihrer Zuständigkeiten zwar auch am Privatrechtsverkehr teilnehmen. Sie handeln dabei jedoch stets in Wahrnehmung ihres dem Gemeinwohl verpflichteten Auftrags. Ihre unmittelbare Bindung an die Grundrechte hängt daher weder von der Organisationsform ab, in der sie dem Bürger gegenübertreten, noch von der Handlungsform. [27] Die Wahl der Organisationsform hat keine Auswirkungen auf die Grundrechtsbindung des Staates oder anderer Träger öffentlicher Gewalt. Das gilt nicht nur dann, wenn sie ihre Aufgaben unmittelbar selbst oder mittelbar durch juristische Personen des öffentlichen Rechts erfüllen, sondern auch dann, wenn sie auf privatrechtliche Organisationsformen zurückgreifen. Das gilt auch für gemischt-wirtschaftliche Unternehmen des Privatrechts, solange sie diese beherrschen. […] [29] Die Grundrechtsbindung der öffentlichen Gewalt gilt auch unabhängig von den gewählten Handlungsformen und den Zwecken, zu denen sie tätig wird. Sobald der Staat oder andere Träger öffentlicher Gewalt eine Aufgabe an sich ziehen, sind sie bei deren Wahrnehmung an die Grundrechte gebunden. Dies gilt auch, wenn sie insoweit auf das Zivilrecht zurückgreifen. Eine Flucht aus der Grundrechtsbindung in das Privatrecht mit der Folge, dass der Staat unter Freistellung von Art. 1 Abs. 3 GG als Privatrechtssubjekt zu begreifen wäre, ist ihm verstellt. Jura Intensiv [30] Unerheblich ist auch, ob die für den Staat oder andere Träger öffentlicher Gewalt handelnde Einheit „spezifische“ Verwaltungsaufgaben wahrnimmt, ob sie erwerbswirtschaftlich oder zur reinen Bedarfsdeckung tätig wird („fiskalisches“ Handeln) und welchen sonstigen Zweck sie verfolgt. Der Vorstellung, die Grundrechtsbindung sei von der Natur des verfolgten Zwecks abhängig, liegt eine Dichotomie zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht zugrunde, die mit der verfassungsrechtlichen Grundentscheidung für eine umfassende Grundrechtsbindung aller staatlichen Gewalt (Art. 1 Abs. 3 GG) nicht vereinbar ist. […] Inhaltsverzeichnis

RA 10/2016 Öffentliches Recht 535 [31] Für die in der Zivilrechtsprechung, vereinzelt auch in der Verwaltungsrechtsprechung früher verbreitete Auffassung, wonach die in privatrechtlichen Handlungsformen jenseits des sogenannten Verwaltungsprivatrechts „fiskalisch“ tätig werdende öffentliche Hand grundsätzlich keiner Grundrechtsbindung unterliege, ist daher kein Raum. [34] Vor diesem Hintergrund besteht an der unmittelbaren und uneingeschränkten Bindung der Beklagten des Ausgangsverfahrens an die Grundrechte kein Zweifel. Sie ist ein öffentliches Unternehmen, dessen einziger Gesellschafter eine Körperschaft des öffentlichen Rechts ist, die sich ihrerseits auf einen Landkreis und fünf Gemeinden stützt.“ Korrektur des BVerwG und des BGH (vgl. BVerwG, Urteil vom 10.12.2012, 7 C 8/10, juris Rn 31ff.; BGH, Urteil vom 2.12.2003, XI ZR 397/02, juris Rn 12; anders jetzt aber BGH, Urteil vom 26.6.2015, V ZR 227/14, juris Rn 9) Somit gelangt Art. 3 I GG unmittelbar zugunsten des A zur Anwendung. II. Ungleichbehandlung Eine Ungleichbehandlung liegt vor, wenn wesentlich Gleiches ungleich behandelt wird. Das ist der Fall, wenn eine Personengruppe oder Situation rechtlich anders behandelt wird als eine vergleichbare andere Personengruppe oder Situation. Um dies festzustellen bedarf es der Festlegung eines gemeinsamen Oberbegriffs als Bezugspunkt, unter den die verschieden behandelten Personengruppen oder Situationen fallen. Zu vergleichen sind die Besucher des Freizeitbades, sie bilden also den gemeinsamen Oberbegriff. Indem die Einwohner der „Trägergemeinden“ einen geringeren Eintrittspreis zu entrichten haben, werden sie bessergestellt. Folglich liegt eine Ungleichbehandlung zum Nachteil der Ortsfremden, also auch des A, vor. III. Rechtfertigung der Ungleichbehandlung Die Ungleichbehandlung könnte gerechtfertigt sein. Das GG verbietet nur die grundlose Ungleichbehandlung, will aber nicht eine absolute Gleichheit erzwingen. Ansonsten wäre Art. 3 II, III GG, der eine Ungleichbehandlung nur aus bestimmten Gründen verbietet, überflüssig. Gerechtfertigt ist die Ungleichbehandlung, wenn für sie ein sachlicher Grund besteht. Jura Intensiv 1. Wohnsitz als sachlicher Grund Eventuell stellt bereits allein der Umstand, dass ein Besucher des Freizeitbades seinen Wohnsitz in einer „Trägergemeinde“ hat, einen sachlichen Grund dafür dar, ihn hinsichtlich des Eintrittspreises zu privilegieren. „[39] In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist geklärt, dass der Wohnsitz allein kein eine Bevorzugung legitimierender Grund ist. Die bloße Nichtzugehörigkeit zu einer Gemeinde berechtigt diese daher nicht, Auswärtige zu benachteiligen. Jedoch ist nicht ausgeschlossen, eine Ungleichbehandlung an Sachgründe zu knüpfen, die mit dem Wohnort untrennbar zusammenhängen. […] [40] Verfolgt eine Gemeinde durch die Privilegierung Einheimischer das Ziel, knappe Ressourcen auf den eigenen Aufgabenbereich […] zu beschränken, Gemeindeangehörigen einen Ausgleich für besondere Belastungen zu gewähren oder Auswärtige für einen erhöhten Aufwand in Anspruch zu nehmen, oder sollen die kulturellen und sozialen Belange der örtlichen Gemeinschaft dadurch gefördert und der kommunale Zusammenhalt dadurch gestärkt werden, dass Einheimischen besondere Vorteile gewährt werden, kann dies mit Art. 3 Abs. 1 GG daher vereinbar sein. BVerfGE 49, 148, 165 Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte, Rn 485, 487 Das BVerfG geht in der Entscheidung nicht darauf ein, wie intensiv das Vorliegen eines sachlichen Grundes zu prüfen ist (Stichworte: Willkürprüfung und „neue Formel“). In einer Klausur wäre das aber angebracht (vgl. dazu Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte, Rn 493). Wohnsitz zulässiges Differenzierungskriterium? Als alleiniges Kriterium nicht Vgl. BVerfGE 33, 303, 355; 134, 1, 21 Aber: Zulässige Differenzierungskriterien im Zusammenhang mit dem Wohnsitz: • knappe Ressourcen • Ausgleich für besondere Belastungen der Gemeindeangehörigen • erhöhter Aufwand durch auswärtige Nutzer • Förderung der kulturellen oder sozialen Belange der örtlichen Gemeinschaft • Stärkung des kommunalen Zusammenhalts Inhaltsverzeichnis

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