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RA Digital - 10/2021

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540 Öffentliches Recht

540 Öffentliches Recht RA 10/2021 Abstandsflächen gewahrt • grds. kein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme (vgl. BVerwG, Beschluss vom 11.1.1999, 4 B 128.98, juris Rn 3; OVG Bautzen, Beschluss vom 21.12.2018, 2 M 117/18, juris Rn 23) Ausnahmekonstellation liegt nicht vor Grds. kein Schutz vor Einsichtsmöglichkeiten, weil das in innerörtlichen Bereichen der Normalfall ist. Ausn.: Nachbar sitzt quasi auf dem „Präsentierteller“. „Die Antragsteller haben keine substantiellen Bedenken gegen die Anwendbarkeit der Rechtsprechung vorgetragen, dass eine Verletzung des drittschützenden Gebots der Rücksichtnahme in der Regel nicht mehr in Betracht kommt, wenn die landesrechtlichen Abstandsflächenvorschriften eingehalten sind. […] Besonderheiten, aus denen im Hinblick auf die Lichtverhältnisse ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot trotz der Einhaltung der Abstandsflächen abzuleiten wäre, liegen nicht vor. Durch Abstandsflächen nach § 6 BauO LSA sollen eine ausreichende Belichtung und Besonnung im Regelfall sichergestellt werden. Das Maß der aus diesen Gründen einzuhaltenden Abstände ist damit vom Gesetzgeber vorgegeben. Ein Nachbar, der sich gegen die Verwirklichung eines Bauvorhabens zur Wehr setzt, kann eine über den Schutz des § 6 BauO LSA hinausgehende Rücksichtnahme in der Regel nicht beanspruchen. Weitergehende baunachbarrechtliche Abwehrrechte sind nur in Extremfällen zu erwägen. Insbesondere ist es in bebauten Ortslagen in Mitteleuropa regelmäßig unvermeidlich und daher von den Nachbarn hinzunehmen, dass nördlich gelegene Grundstücke von Bebauung auf südlich gelegenen Nachbargrundstücken verschattet werden.“ Somit gewährt das Gebot der Rücksichtnahme hinsichtlich einer drohenden Verschattung keinen über die Abstandsflächenvorschrift hinausgehenden Drittschutz. 2. Einsichtsmöglichkeiten Evtl. sind die Antragsteller aber dadurch spürbar betroffen, dass das Bauvorhaben seinen Bewohnern die Einsicht in die Privaträume der Antragsteller ermöglicht. „Das Verwaltungsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass es in der Regel keinen Schutz vor Einsichtsmöglichkeiten in bestehende Wohn- oder Ruhebereiche gibt. Zwar kann der Schutz vor Einsichtsmöglichkeiten auch dann bauplanungsrechtlich relevant sein, wenn die landesrechtlichen Abstandsvorschriften eingehalten sind; in diesen Fällen wird jedoch zumindest aus tatsächlichen Gründen das Rücksichtnahmegebot im Regelfall nicht verletzt sein. Insbesondere in bebauten innerörtlichen Bereichen gehört es zur Normalität, dass von benachbarten Grundstücken bzw. Gebäuden aus Einsicht in das eigene Grundstück oder Gebäude genommen werden kann, so dass Einsichtsmöglichkeiten regelmäßig hingenommen werden müssen. Etwas Anderes kann dann gelten, wenn die Verhältnisse derart beengt sind, dass den Nachbarn praktisch keine Privatsphäre mehr verbleibt. Das kann der Fall ein, wenn durch die von dem streitgegenständlichen Bauvorhaben ausgelöste Einsichtsmöglichkeit ein letzter intimer, der privaten Lebensgestaltung des Nachbarn zugeordneter Raum zerstört wird, etwa wenn durch die Errichtung eines Balkons qualifizierte Einsichtsmöglichkeiten wie von einer „Aussichtsplattform“ in ein etwa ein Meter entferntes Schlafzimmerfenster sowie in die benachbarten Terrassenbereiche geschaffen werden, wenn eine Dachterrasse aus kurzer Entfernung Einsichtsmöglichkeiten nicht nur in einen Innenhof, sondern auch in die Fenster eines Nachbargebäudes eröffnet oder wenn eine bauliche Anlage den alleinigen Zweck hat, als Aussichtsplattform für eine Vielzahl wechselnder Besucher aus großer Höhe zu dienen. Jura Intensiv Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 10/2021 Öffentliches Recht 541 Ein solcher Fall liegt nicht vor. Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, dass die Fenster des Hauses A1 entweder seitlich oder erst mehrere Meter hinter der Grundstücksgrenze liegen, so dass die Möglichkeit der Einsichtnahme in die Fenster des Wohnhauses der Antragsteller begrenzt sei. Zudem habe der Antragsgegner zu 2. unwidersprochen vorgetragen, dass es sich bei den Fenstern des neu zu errichtenden Gebäudes entweder um Flur- oder um Treppenhausfenster handele, hinter denen sich üblicherweise niemand aufhalte. […].“ Demnach können sich die Antragsteller nicht erfolgreich auf einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme berufen. V. Fehlende Zustimmung der oberen Bauaufsichtsbehörde Schließlich bleibt noch der Einwand der Antragsteller, die obere Bauaufsichtsbehörde hätte dem Bauvorhaben zustimmen müssen. Das wirft die Frage auf, ob ein solches Beteiligungserfordernis individualschützende Wirkung hat. „Ein Nachbar hat keinen Anspruch darauf, dass die Vorschriften über das Baugenehmigungs- und auch das Zustimmungsverfahren beachtet werden. Im Baugenehmigungsverfahren wird zwar auch die Vereinbarkeit des Vorhabens mit dem Nachbarschutz dienenden Vorschriften geprüft […]. Das Verfahrensrecht dient insofern dem Schutz potentiell Betroffener, als es gewährleisten soll, dass die materiell-rechtlichen Vorschriften eingehalten werden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Einzelne die Beachtung der Verfahrensvorschriften um ihrer selbst willen erzwingen kann, unabhängig davon, ob er in einem materiellen Recht verletzt ist oder nicht. Der Regelung des § 76 Abs. 1 BauO LSA lässt sich eine Schutzfunktion zugunsten Einzelner in diesem Sinne nicht entnehmen.“ Demnach fehlt es insoweit bereits an einer drittschützenden Wirkung. Die Antragsteller sind folglich durch das umstrittene Bauvorhaben nicht in ihren Nachbarrechten verletzt. Jura Intensiv FAZIT Die Entscheidung des OVG Magdeburg ist äußerst lehrreich, weil einerseits klassische Probleme des Drittschutzes im Baurecht erörtert werden (Gebietserhaltungsanspruch, Abstandsflächenregelung, Gebot der Rücksichtnahme), andererseits aber auch eher unbekannte Fragestellungen auftauchen (Drittschutz aus § 1 III 1 BauGB, grenzüberschreitender Gebietserhaltungsanspruch in einem faktischen Baugebiet, Verhältnis der Abstandsflächenregelung zum Gebot der Rücksichtnahme). Da Nachbarrechtsfälle im Baurecht zudem immer wieder Gegenstand von Examensklausuren sind, sollte der Beschluss zum Anlass genommen werden, sich nochmals intensiv mit den drittschützenden baurechtlichen Vorschriften auseinanderzusetzen. Drittschützende Wirkung (-) Jüngst erst im 1. Examen, Termin August 2021, 1. Klausur (Ringtausch, lief u.a. in NRW, Hessen und Rh.-Pfalz) © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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