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RA Digital - 10/2022

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540 Öffentliches Recht

540 Öffentliches Recht RA 10/2022 Problem: Tätowierungen bei einer Polizeibewerberin Einordnung: Beamtenrecht VGH Mannheim, Beschluss vom 07.07.2022 4 S 1317/22 LEITSÄTZE 1. Das Tragen einer Tätowierung auch im nicht sichtbaren Bereich steht der Einstellung eines Bewerbers entgegen, wenn und soweit diese Tätowierung durch ihren Inhalt gegen (zukünftige) beamtenrechtliche Pflichten verstößt. 2. Auch unterhalb der Schwelle des sich unmittelbar aus einer Tätowierung ergebenden Verstoßes gegen Beamtenpflichten kommt in Betracht, dass die Einstellungsbehörde aus bei einem Bewerber vorhandenen Tätowierungen Rückschlüsse auf dessen (charakterliche) Eignung für das angestrebte Amt zieht. Erforderlich ist jedoch stets eine Gesamtwürdigung aller bekannten Umstände (hier bezogen auf eine Bewerberin für den Polizeivollzugsdienst mit tätowierten Schusswaffen nebst Schlagring). Alternativer Prüfungsaufbau: „Ungleichbehandlung/ Rechtfertigung“ Art. 33 II GG: Grundsatz der Bestenauslese Sog. Bewerbungsverfahrensanspruch Problem: Eignung EINLEITUNG Tätowierungen führen insbesondere bei Beamten immer wieder zu rechtlichen Auseinandersetzungen wie der nachfolgend dargestellte Beschluss des VGH Mannheim beweist. SACHVERHALT Die Antragstellerin (A) war Soldatin auf Zeit bei der Bundeswehr und diente dort u.a. beim KSK (= Kommando Spezialkräfte). Sie bewarb sich für den Polizeivollzugsdienst in Baden-Württemberg und wies dabei auf verschiedene Tattoos hin, die sich alle im nicht sichtbaren Bereich ihres Körpers befinden. Bei den Tattoos handelt es sich einerseits um dekorative Motive wie Blumen und Bänder sowie um das Geburtsdatum ihres Vaters und - als Ausdruck für ihre Freude am Reisen - eine Weltkarte mit dem Spruch „take nothing but pictures, leave nothing but footprints“. Andererseits sind über dem Gesäß der A aber auch zwei Waffen der Marke Beretta, zwei Rosen, ein Schlagring und der KSK-Leitspruch „Facit omnia voluntas“ (= „Der Wille entscheidet“) tätowiert. Das Land Baden-Württemberg (Antragsgegner) lehnte die Bewerbung ab, weil sich aus der Gesamtschau der Tätowierungen und der von A dazu abgegebenen Stellungnahmen eine gewaltverharmlosende und waffenfixierte Einstellung ergebe, sodass sie für den Polizeivollzugsdienst ungeeignet sei. A sieht sich durch diese Entscheidung in ihrem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 33 II GG verletzt. Ist das zutreffend? LÖSUNG A ist in ihrem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 33 II GG verletzt, wenn die in dieser Vorschrift normierten Auswahlkriterien vom Antragsgegner nicht beachtet wurden. Jura Intensiv I. Auswahlkriterien des Art. 33 II GG „Gemäß Art. 33 Abs. 2 GG hat jeder Deutsche nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt. Dies bedeutet, dass öffentliche Ämter nach Maßgabe des Grundsatzes der Bestenauslese bzw. des Leistungsgrundsatzes zu besetzen sind. Der Grundsatz gilt unbeschränkt und vorbehaltlos. Er dient primär dem öffentlichen Interesse an der bestmöglichen Besetzung der Ämter des öffentlichen Dienstes und daneben dem berechtigten Interesse der Beamten an einem angemessenen beruflichen Fortkommen. Dem trägt er dadurch Rechnung, dass er das grundrechtsgleiche Recht auf eine ermessens- und beurteilungsfehlerfreie Einbeziehung in die Bewerberauswahl begründet. Art. 33 Abs. 2 GG gibt die entscheidenden Maßstäbe für die Bewerberauswahl abschließend vor. […] Dabei erfasst die Eignung im engeren Sinne insbesondere Persönlichkeit und charakterliche Eigenschaften, die für ein bestimmtes Amt von Bedeutung sind. Der in Ausfüllung des Begriffs der Eignung ebenso wie der Begriffe Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 10/2022 Öffentliches Recht 541 Befähigung und fachliche Leistung dem Dienstherrn eröffnete Beurteilungsspielraum unterliegt einer nur begrenzten gerichtlichen Kontrolle. Diese ist auf das auch sonst in Fällen eines Beurteilungs- oder Einschätzungsspielraums anerkannte Prüfprogramm beschränkt, nämlich ob die zuständige Stelle von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist, ob sie den anzuwendenden Begriff oder den gesetzlichen Rahmen, in dem sie sich frei bewegen kann, verkannt hat, ob sie allgemeingültige Wertmaßstäbe nicht beachtet, sachfremde Erwägungen angestellt oder gegen Verfahrensvorschriften verstoßen hat. […] Ein Unterfall der persönlichen Eignung eines Einstellungsbewerbers ist dessen charakterliche Eignung. Hierfür ist die prognostische Einschätzung entscheidend, inwieweit der Bewerber der von ihm zu fordernden Loyalität, Aufrichtigkeit, Zuverlässigkeit, Fähigkeit zur Zusammenarbeit und Dienstauffassung gerecht werden wird. […] Das Tragen einer Tätowierung steht der Einstellung eines Bewerbers entgegen, wenn und soweit die Tätowierung durch ihren Inhalt gegen (zukünftige) beamtenrechtliche Pflichten verstößt. Dies ist zum einen der Fall, wenn sich aus dem Inhalt der Tätowierung eine Straftat ergibt, etwa nach § 86a Abs. 1 Nr. 1 StGB. Ein Verstoß gegen die Verfassungstreuepflicht kann aber auch dann vorliegen, wenn einzelne Tätowierungen für sich genommen weder strafrechtlich zu beanstanden sind noch einen unmittelbaren Bezug insbesondere zum Dritten Reich aufweisen. Soweit durch Tätowierungen die Verfassungstreuepflicht berührt ist, betrifft dies ein unmittelbar kraft gesetzlicher Anordnung und Verfassungsrecht geltendes Eignungsmerkmal, sodass es nicht von Belang ist, ob das Verbot entsprechender Tätowierungen durch eine wirksame (Verwaltungs-)Vorschrift konkretisiert worden ist. Aber auch unterhalb der Schwelle des sich unmittelbar aus einer Tätowierung ergebenden Verstoßes gegen Beamtenpflichten kommt in Betracht, dass die Einstellungsbehörde aus den bei einem Bewerber vorhandenen Tätowierungen Rückschlüsse auf dessen (charakterliche) Eignung für das angestrebte Amt zieht. So können Tätowierungen eine Einstellung offenbaren, die den prognostischen Rückschluss darauf zulässt, dass der Bewerber etwa seiner Pflicht zu achtungs- und vertrauenswürdigem Verhalten gemäß § 34 Abs. 1 Satz 3 BeamtStG nicht gerecht würde. Erforderlich ist stets eine Gesamtwürdigung aller bekannten Umstände.“ Jura Intensiv II. Persönliche Eignung der A Den skizzierten rechtlichen Maßstab für die Beurteilung der persönlichen Eignung könnte der Antragsgegner bei A fehlerhaft angewendet haben. „Dabei ist der Antragsgegner […] zunächst zutreffend davon ausgegangen, dass gerade das Tattoo mit u.a. in Originalgröße dargestellten Berettas und einem Schlagring, einer verbotenen Waffe (Nr. 1.3.2 der Anlage 2 Abschnitt 1 zu § 2 Abs. 3 WaffG), Anlass gibt, der charakterlichen Eignung der Antragstellerin besondere Aufmerksamkeit zu schenken. […] Zum Tattoo hat die Antragstellerin ausgeführt, sie habe auch Waffen tätowiert, weil diese und damit verbundene Berufe sie schon ein Leben lang begleiteten; ihr Vater sei Polizist, ebenso wie ihre Cousine und eine sehr gute Freundin. Seit ihrem 18. Lebensjahr sei sie bei der Bundeswehr und habe Beurteilungsspielraum der Behörde „Eignung“ erfasst auch die charakterliche Eignung. Eignung (-), wenn sich aus Inhalt der Tätowierung • eine Straftat oder • ein Verstoß gegen die Verfassungstreuepflicht ergibt Verfassungstreuepflicht folgt unmittelbar aus dem GG, bedarf keiner gesetzlichen Konkretisierung. Auch „harmlose“ Tattoos können charakterliche Eignung ausschließen. Würdigung der Umstände des Einzelfalles erforderlich Subsumtion Gewaltsymbole verlangen besonders genaue Prüfung der Eignung. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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