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RA Digital - 10/2022

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550 Strafrecht

550 Strafrecht RA 10/2022 Nun forderte R die A auf, alle noch vorhandenen Insulinspritzen zu holen. A holte sechs schnell wirkende Insulinspritzen. Ihr war bewusst, dass sie ihrem Mann nunmehr entsprechend der üblichen Handhabung die sechs Insulinspritzen in die Bauchdecke injizieren sollte, was sie auch tat. Sie wusste, dass die Insulingabe geeignet war, seinen Tod herbeizuführen. Nachdem sie ihm die Insulinspritzen verabreicht hatte, fragte R die A, ob dies auch alle vorrätigen Spritzen gewesen seien, „nicht, dass er noch als Zombie“ zurückkehre. Ihm fiel es nun zunehmend schwer, seine letzte Zigarette sicher in der Hand zu halten, weshalb A ihm diese aus der Hand nahm. Er fuhr sich noch einmal mit der Hand über den Kopf und schlief ein. A vergewisserte sich immer wieder, ob er noch atme, und stellte schließlich gegen 3:30 Uhr seinen Tod fest. Einen Arzt informierte sie aufgrund der mit ihrem Ehemann getroffenen Absprache nicht. R starb an Unterzuckerung infolge des injizierten Insulins. Die anfangs mittels der Tabletten eingenommenen Wirkstoffe waren ebenfalls geeignet, seinen Tod herbeizuführen, jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt. Hat A sich nach dem StGB strafbar gemacht? [Anm.: Es ist davon auszugehen, dass R mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gerettet worden wäre, wenn A unmittelbar nach dem Einschlafen des R einen Notarzt verständigt hätte. § 221 StGB ist nicht zu prüfen.] PRÜFUNGSSCHEMA: TÖTUNG AUF VERLANGEN, § 216 StGB A. Tatbestand I. Tötung des Opfers II. Ausdrückliches und ernstliches Tötungsverlangen des Opfers III. Hierdurch zur Tötung bestimmt IV. Vorsatz B. Rechtswidrigkeit und Schuld LÖSUNG Jura Intensiv A. Strafbarkeit gem. § 216 I StGB Durch die Übergabe der Medikamente und die Injektionen könnte A sich wegen Tötung auf Verlangen gem. § 216 I StGB zum Nachteil des R strafbar gemacht haben. I. Tatbestand Zunächst müsste eine Tötung des R durch A vorliegen, d.h. A müsste R als Täterin getötet haben. BGH, Urteil vom 03.07.2019, 5 StR 132/18, RA 2019, 549; Urteil vom 14.08.1963, 2 StR 181/63, NJW 1965, 699 „[14] a) Täter einer Tötung auf Verlangen ist, wer das zum Tode führende Geschehen tatsächlich beherrscht, auch wenn er sich damit einem fremden Selbsttötungswillen unterordnet. Entscheidend ist, wer den lebensbeendenden Akt eigenhändig ausführt. Gibt sich der Suizident nach dem Gesamtplan in die Hand des anderen, um duldend von ihm den Tod entgegenzunehmen, dann hat dieser die Tatherrschaft. Behält der Sterbewillige dagegen bis zuletzt die freie Entscheidung über sein Schicksal, dann tötet er sich selbst, wenn auch mit fremder Hilfe. Dies gilt nicht nur, wenn die Ursachenreihe von ihm selbst, sondern auch, wenn sie vom anderen bewirkt worden war. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 10/2022 Strafrecht 551 Solange nach Vollzug des Tatbeitrags des anderen dem Sterbewilligen noch die volle Freiheit verbleibt, sich den Auswirkungen zu entziehen oder sie zu beenden, liegt nur Beihilfe zur Selbsttötung vor. [15] Die Abgrenzung strafbarer Tötung auf Verlangen von strafloser Beihilfe zum Suizid kann dabei nicht sinnvoll nach Maßgabe einer naturalistischen Unterscheidung von aktivem und passivem Handeln vorgenommen werden. Geboten ist vielmehr eine normative Betrachtung. [16] b) Danach beherrschte nicht die Angeklagte das zum Tode führende Geschehen, sondern ihr Ehemann. Dem steht nicht entgegen, dass die Angeklagte ihm das todesursächliche Insulin durch aktives Tun verabreichte. Eine isolierte Bewertung dieses Verhaltens trägt dem auf die Herbeiführung des Todes gerichteten Gesamtplan nicht hinreichend Rechnung. Danach wollte sich R in erster Linie durch die Einnahme sämtlicher im Haus vorrätigen Schmerz-, Schlaf- und Beruhigungsmittel das Leben nehmen, während die zusätzliche Injektion des Insulins vor allem der Sicherstellung des Todeseintritts diente; er wollte keinesfalls ‚als Zombie zurückkehren‘. Bei wertender Betrachtung bildeten die Einnahme der Tabletten und die Injektion des Insulins nach dem Gesamtplan einen einheitlichen lebensbeendenden Akt, über dessen Ausführung allein R bestimmte. Die Medikamente nahm er eigenständig ein, während die Angeklagte ihm der jahrelangen Übung entsprechend die Insulinspritzen setzte, weil ihm dies aufgrund seiner krankheitsbedingten Beeinträchtigungen schwerfiel. Nach dem Gesamtplan war es letztlich dem Zufall geschuldet, dass das Insulin seinen Tod verursachte, während die Medikamente ihre tödliche Wirkung erst zu einem späteren Zeitpunkt entfaltet hätten. In Anbetracht dessen wird die Annahme des Landgerichts, dass R sich in die Hand der Angeklagten begeben und den Tod duldend von ihr entgegengenommen habe, den Besonderheiten des Falles nicht gerecht. [17] Dies gilt umso mehr, als R das zu seinem Tod führende Geschehen auch noch beherrschte, nachdem die Angeklagte ihm das Insulin injiziert und ihren aktiven Beitrag damit abgeschlossen hatte. Er blieb anschließend noch eine gewisse Zeit lang bei Bewusstsein und sah eigenverantwortlich davon ab, Gegenmaßnahmen einzuleiten, etwa die Angeklagte aufzufordern, den Rettungsdienst zu alarmieren. Er ließ sich im Gegenteil von ihr versichern, dass sie ihm ‚alle vorrätigen Spritzen‘ gesetzt hatte. Jura Intensiv c) Dieser Bewertung steht die Entscheidung des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs im sogenannten ‚Gisela-Fall‘ nicht entgegen, weil sich der ihr zugrundeliegende Sachverhalt und der nunmehr zu beurteilende in rechtlich bedeutsamer Hinsicht unterscheiden. Seinerzeit hatten der Angeklagte auf dem Fahrersitz und die ebenfalls sterbewillige Geschädigte auf dem Beifahrersitz eines Autos Platz genommen, und der Angeklagte ließ mittels eines an das Auspuffrohr angeschlossenen Schlauchs Abgas in das Wageninnere strömen, indem er das Gaspedal durchtrat, bis er die Besinnung verlor. Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hob den Freispruch des Angeklagten vom Vorwurf der Tötung auf Verlangen auf, obwohl die Geschädigte zunächst noch in der Lage gewesen war, die Beifahrertür zu öffnen oder den Fuß des Angeklagten vom Gaspedal zu stoßen. Die Tatherrschaft des Angeklagten sah er darin begründet, dass dieser nach dem Gesamtplan durch das fortdauernde Durchtreten des Gaspedals das Geschehen bis zuletzt in der Hand haben sollte. Der aktive Beitrag des BGH, Urteil vom 03.07.2019, 5 StR 132/18, RA 2019, 549; Urteil vom 25.10.2010, 2 StR 454/09, NJW 2010, 2963 „Gisela-Fall“: BGH, Urteil vom 14.08.1963, 2 StR 181/63, NJW 1965, 699 © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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