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RA Digital - 10/2022

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554 Strafrecht

554 Strafrecht RA 10/2022 BGH, Urteil vom 03.12.1982, 2 StR 494/82, NStZ 1983, 117 Engländer, JZ 2019, 1049; Sowada, NStZ 2019, 670 BVerfG, Urteil vom 26.02.2020, 2 BvR 2347/15, NJW 2020, 905 BGH, Urteil vom 03.07.2019, 5 StR 132/18, RA 2019, 549 [27] bb) Der Bundesgerichtshof hat ferner entschieden, dass die Begründung einer Wohn- und Lebensgemeinschaft zwar Obhuts- und Schutzpflichten zu erzeugen vermag. Hieraus folgt aber keine Rechtspflicht, den anderen am selbstgewollten Ableben zu hindern, sofern sich dieser in freier Willensbestimmung dazu entschlossen hat, dem für ihn erkennbar herannahenden Tod keinen Widerstand mehr entgegenzusetzen, sondern dem dazu führenden Geschehen seinen Lauf zu lassen. [28] cc) Die Auffassung, nach der das Selbstbestimmungsrecht und die Eigenverantwortlichkeit des Sterbewilligen die Einstandspflicht im Sinne von § 13 Abs. 1 StGB begrenzen, wird auch in der Literatur weithin vertreten. [29] dd) Für eine durch Eheschließung begründete Garantenpflicht kann nichts anderes gelten, zumal die vom 5. Strafsenat zur Begrenzung der ärztlichen Schutzposition für das Leben seiner Patienten herangezogenen Gründe mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Recht auf selbstbestimmtes Sterben zusätzliches Gewicht erlangt haben. Dieses Recht schützt auch vor Verboten gegenüber Dritten, von denen die Wahrnehmung des Grundrechts abhängig ist. Deshalb kann eine strafbewehrte Pflicht, den Ehepartner zu retten, wenn dieser infolge einer freiverantwortlichen Selbsttötungsentscheidung eingeschlafen ist, fortan keinen Bestand haben.“ Eine Garantenstellung der A aus enger persönlicher Verbundenheit, also aus ihrer Ehe mit R, ist somit nicht gegeben. b) Garantenstellung aus Ingerenz A könnte jedoch eine Garantenstellung aus vorangegangenem gefährdendem Tun (Ingerenz) innehaben. „[32] Eine Garantenstellung wegen Ingerenz wurde nicht dadurch begründet, dass die Angeklagte R die Medikamente reichte und ihm die Insulinspritzen setzte. Hiergegen stehen die freiverantwortlichen Entscheidungen des Sterbewilligen, die Medikamente einzunehmen und die durch das Spritzen des Insulins in Gang gesetzte Ursachenreihe nicht zu unterbrechen. Das Risiko für die Verwirklichung der durch das Vorverhalten des Angeklagten erhöhten Gefahr lag allein im Verantwortungsbereich von R.“ Jura Intensiv A hat also auch keine Garantenstellung aus Ingerenz. II. Ergebnis A ist nicht strafbar gem. §§ 216 I, 13 StGB. D. Strafbarkeit gem. §§ 216 I, 13, 22, 23 I StGB Dadurch, dass sie keinen Notarzt verständigte, könnte A sich aber wegen versuchter Tötung auf Verlangen durch Unterlassen gem. §§ 216 I, 13, 22, 23 I StGB strafbar gemacht haben. I. Vorprüfung Eine Strafbarkeit der A wegen vollendeter Tat ist nicht gegeben (s.o.). Die Versuchsstrafbarkeit ergibt sich aus § 216 II StGB. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 10/2022 Strafrecht 555 II. Tatentschluss A müsste Tatentschluss gehabt haben. Insbesondere müsste sie sich also Umstände vorgestellt haben, aus denen sich einen Garantenstellung und – pflicht ergeben würden. „[35] b) Das Landgericht hat zudem keine Fehlvorstellung der Angeklagten über die Grenzen der Verantwortlichkeit als Ehefrau für Leib und Leben ihres Mannes nach Eintritt der Bewusstlosigkeit festgestellt; eine solche beträfe ohnehin kein Tatbestandsmerkmal, sondern die Frage der strafrechtlichen Bewehrung. Selbst wenn die Angeklagte irrig angenommen hätte, sie verletze eine bestehende Garantenpflicht, läge mithin lediglich ein strafloses Wahndelikt vor. [36] c) Eine Fehlvorstellung der Angeklagten über die Voraussetzungen einer Garantenstellung aus Ingerenz ist ebenso wenig festgestellt. Der Senat schließt aus, dass sie einem Irrtum über Tatsachen hätte erlegen sein können. Ein Irrtum über die normativen Bedingungen einer Einstandspflicht im Sinne von § 13 Abs. 1 StGB vermag hingegen keine Strafbarkeit zu begründen (vgl. oben b).“ A hat also keinen Tatentschluss zur Begehung einer Tötung auf Verlangen durch Unterlassen. III. Ergebnis A ist nicht strafbar gem. §§ 216 I, 13, 22, 23 I StGB. E. Strafbarkeit gem. § 323c I StGB „[37] Schließlich hat sich die Angeklagte nicht wegen unterlassener Hilfeleistung (§ 323c Abs. 1 StGB) strafbar gemacht, indem sie es unterließ, Rettungsmaßnahmen einzuleiten, nachdem R eingeschlafen war. Eine dem von ihm geäußerten Willen zuwiderlaufende Hilfeleistung war ihr aus den bereits genannten Gründen nicht zumutbar.“ Jura Intensiv FAZIT Eine sehr lesenswerte Entscheidung, in der der BGH nicht nur die von ihm insbesondere im Urteil vom 03.07.2019 (5 StR 132/18, RA 2019, 549) entwickelten Kriterien zur Abgrenzung von strafbarer Tötung auf Verlangen, § 216 I StGB, und strafloser Beihilfe zum Suizid präzisiert, sondern auch erklärt, warum diese aktuelle Lösung keine Abkehr von den im „Gisela-Fall“ entwickelten Kriterien darstellt. Auch die Ausführungen des BGH zu Garantenpflichten bzw. deren fehlen im Falle eines eigenverantwortlichen Suizids sind keine neuen Erkenntnisse, präzisieren aber die bisherige Rechtsprechung. Insofern ist diese Entscheidung geradezu dazu prädestiniert, als Vorlage für Examensaufgaben herangezogen zu werden. In der Entscheidung 5 StR 132/18 war die Ablehnung der Tötung auf Verlangen offensichtlicher, weil dort die letzte aktive Handlung, die zum Tod der Opfer geführt hatte (Einnahme von Medikamenten), eine solche der Opfer selbst war, wohingegen im vorliegenden Sachverhalt die Angeklagte ihrem Mann die tödliche Insulindosis gespritzt hatte. Trotzdem hat der BGH auch dort schon ausgeführt, dass anhand einer Gesamtbetrachtung des Geschehens – und nicht nach einer reinen Abgrenzung von Tun und Unterlassen – zu überprüfen sei, wer das Geschehen beherrsche. Tatentschluss ist der Wille zur Verwirklichung der objektiven Tatumstände bei gleichzeitigem Vorliegen eventuell erforderlicher besonderer subjektiver Tatbestandsmerkmale. BGH, Beschluss vom 08.06.2017, 1 StR 614/16, NStZ-RR 2017, 282 BGH, Urteil vom 14.08.1963, 2 StR 181/63, NJW 1965, 699 © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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