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RA Digital - 11/2017

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590 Öffentliches Recht

590 Öffentliches Recht RA 11/2017 B sah zudem einen Verfassungsverstoß in der Bereitstellung staatlicher Mittel für politische Stiftungen und die Bundestagsfraktionen, hatte diesen jedoch nicht ausreichend substanziiert vorgetragen (vgl. Rn 36-56 des Beschlusses). Mandatsrelevanz = Auswirkung des Wahlfehlers auf die Sitzverteilung ist nach allg. Lebenserfahrung konkret möglich (BVerfGE 89, 243, 254). BVerfGE 95, 335, 358, 379; vgl. auch BT-Drs. 17/11819, S. 20 Das BVerfG prüft Art. 38 I 1 GG und Art. 21 I GG zusammen, weil sie bzgl. der Wahlrechtsgleichheit identische Anforderungen stellen (vgl. BVerfG, NJW 1997, 1553, 1554f., 1560). Sachlicher Grund unter „verschärften“ Voraussetzungen, weil Missbrauchsgefahr besteht BVerfGE 95, 408, 417f.; 120, 82, 105 BVerfGE 1, 208, 247ff.; 95, 335, 366; 122, 304, 314f. Wahlperiode in den Bundestag eintrete, keinen Anspruch auf die Bezahlung von Mitarbeitern habe. Eine wirksame Kontrolle der Mittelverwendung existiere im Übrigen nicht, weil die Bundestagsabgeordneten darüber keinerlei öffentliche Rechenschaft ablegen müssten. Die behaupteten Verfassungsverstöße haben das Ergebnis der Bundestagswahl 2013 nach Ansicht des B massiv verfälscht und sich auf die Zusammensetzung des Bundestages ausgewirkt, sodass ihnen die erforderliche sog. Mandatsrelevanz zukommt. Hat B Recht? LÖSUNG B hat Recht, wenn - wie von ihm behauptet - ein Eingriff in die Grundsätze der Gleichheit der Wahl und der Chancengleichheit der Parteien vorliegt, der nicht gerechtfertigt ist und sich der daraus ergebende Verfassungsverstoß auf die Zusammensetzung des Bundestages ausgewirkt hat (Mandatsrelevanz). A. 5%-Sperrklausel und Eventualstimmrecht I. Eingriff in Gleichheit der Wahl und Chancengleichheit der Parteien Die 5%-Sperrklausel und das Fehlen eines Eventualstimmrechts könnten in die in Art. 38 I 1 GG normierte Wahlrechtsgleichheit sowie in die aus Art. 21 I GG abzuleitende Chancengleichheit der Parteien eingreifen. Die Wahlrechtsgleichheit beinhaltet u.a., dass die Stimme eines jeden Wahlberechtigten bei einer Verhältniswahl, wie sie die Bundestagswahl im Kern darstellt (vgl. § 6 IV 1, VI 3 BWahlG), grundsätzlich den gleichen Erfolgswert haben muss. Der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien verlangt, dass jeder Partei gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden. Er steht in einem engen Zusammenhang mit den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl und geht in seinen verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht über die Vorgaben des Art. 38 I 1 GG hinaus. Dadurch, dass die Stimmen der Wähler für eine Partei, welche die 5%-Hürde nicht überspringt, den Erfolgswert „null” haben, greift die Sperrklausel in die Wahlrechtsgleichheit und in die Chancengleichheit der Parteien ein. Auswirkungen auf den Erfolgswert der Stimme hat auch das Fehlen eines Eventualstimmrechts, ist es doch geeignet, den mit der Sperrklausel verbundenen Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit abzumildern. Jura Intensiv II. Rechtfertigung des Eingriffs Der Eingriff könnte gerechtfertigt sein. Das ist der Fall, wenn dafür ein besonderer, sachlich legitimierter Grund besteht. Da durch Differenzierungen im Rahmen der Wahlrechtsgleichheit die Bedingungen des politischen Wettbewerbs berührt und die parlamentarische Mehrheit damit gewissermaßen in eigener Sache tätig wird, ist der gesetzgeberische Spielraum eng bemessen und eine strikte verfassungsgerichtliche Kontrolle geboten. 1. 5%-Sperrklausel „[67] Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung die Fünf-Prozent-Sperrklausel bei der Wahl des Deutschen Bundestages für verfassungskonform erachtet. Sie findet ihre Rechtfertigung im Wesentlichen in dem verfassungslegitimen Ziel, die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Parlaments zu sichern. Dies setzt die Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 11/2017 Öffentliches Recht 591 Bildung einer stabilen Mehrheit für die Wahl einer handlungsfähigen Regierung und deren fortlaufende Unterstützung voraus, die durch die Zersplitterung des Parlaments in viele kleine Gruppen gefährdet werden kann. […] Sachlicher Grund: Schutz der Funktionsfähigkeit des Bundestages [68] Die Ausführungen des Beschwerdeführers geben keine Veranlassung, von der bisherigen Rechtsprechung […] abzuweichen. […] [70] Dies gilt zunächst, soweit der Beschwerdeführer auf den sperrklauselbedingten Ausfall von 15,7 % der Stimmen bei der Bundestagswahl 2013 verweist. Dabei ist davon auszugehen, dass das Ziel der Verhinderung einer die Funktionsfähigkeit beeinträchtigenden Zersplitterung des Parlaments die Nichtberücksichtigung der Parteien, die bei der Bundestagswahl weniger als 5 % der Stimmen erhalten haben, grundsätzlich unabhängig davon rechtfertigt, wie viele Stimmen […] auf diese Parteien entfällt. Zwar erhöht sich die Intensität des Eingriffs in die Wahlrechtsgleichheit, je größer die Zahl derjenigen Stimmen ist, die bei der Mandatsverteilung unberücksichtigt bleiben. Insoweit ist dem Beschwerdeführer zuzugestehen, dass es sich bei 15,7 % der Stimmen um eine beachtliche, bisher nicht erreichte Größenordnung handelt. Dies allein vermag jedoch ein Zurücktreten des Ziels, die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Parlaments zu sichern, nicht zu begründen. Hinzu kommt, dass der Anteil von 15,7 % bei der Mandatsverteilung unberücksichtigter Stimmen bei der Bundestagswahl 2013 bisher einen Einzelfall darstellt, der auf das nur knappe Scheitern zweier Parteien zurückzuführen ist. […] [71] Eine andere verfassungsrechtliche Beurteilung könnte möglicherweise geboten sein, wenn der sperrklauselbedingte Ausfall an Stimmen einen Umfang erreichte, der die Integrationsfunktion der Wahl beeinträchtigen würde. Der Gesetzgeber muss die Funktion der Wahl als eines Vorgangs der Integration der politischen Kräfte des gesamten Volkes sicherstellen und zu verhindern suchen, dass gewichtige Anliegen im Volk von der Volksvertretung ausgeschlossen bleiben. Dies ist auch bei der Ausgestaltung und Anwendung der Sperrklausel zu beachten. Eine Beeinträchtigung der Integrationsfunktion der Wahl wird aber weder vom Beschwerdeführer behauptet, noch ist sie in sonstiger Weise erkennbar. Jura Intensiv [74] Soweit der Beschwerdeführer von einer sperrklauselbedingten Verschiebung der Mehrheit zwischen den beiden großen politischen Lagern („rechte Mitte“ und „linkes Lager“) ausgeht, erschließt sich die Relevanz dieses Vorbringens für das Vorliegen eines Wahlfehlers nicht. Unabhängig davon, dass der vom Beschwerdeführer behauptete Bestand zweier großer politischer „Lager“ zu hinterfragen wäre, ist nicht erkennbar, inwieweit die vermutete Existenz politischer Lager in der von ihm beschriebenen Zusammensetzung die Grundsätze der Gleichheit der Wahl und der Chancengleichheit der Parteien tangieren soll. Die Bildung von Koalitionen ist nicht Teil des Wahlprozesses, sondern schließt sich an diesen an. Grundsatz: Anteil der bei der Mandatsverteilung unberücksichtigt gebliebenen Stimmen ist unerheblich, ändert am sachlichen Grund nichts. Zudem stellt Bundestagswahl 2013 historisch betrachtet einen bisher einmaligen Sonderfall dar. Ausnahme: Ausfall der Stimmen beeinträchtigt Integrationsfunktion der Wahl. Das BVerfG lässt hier gleichsam eine Hintertür offen, ohne aber zu konkretisieren, wann die Ausnahme vorliegt. Dies dürfte wohl der Fall sein, wenn regelmäßig mehrere Parteien knapp an der 5%-Hürde scheitern. Sperrklausel hat keinen Einfluss auf „Lagerbildung“ im Bundestag. Zurechnung einer Partei zu einem „Lager“ ist ohnehin nicht immer eindeutig möglich. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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