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RA Digital - 11/2022

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574 Zivilrecht

574 Zivilrecht RA 11/2022 Die Pfändungsverbote des § 811 I ZPO sind für beide juristischen Examen relevant. Auch im ersten Examen können sie bei der Entstehung eines Vermieterpfandrechts über den Verweis aus § 562 I 2 BGB klausurrelevant werden. Weitreichende Änderungen seit dem 01.01.2022 Wichtig für Referendare: Wegen § 571 II ZPO kommt es bei der sofortigen Beschwerde und der Rechtsbeschwerde darauf an, ob die angefochtene Entscheidung „rechtswidrig ist.“ Abzustellen ist also grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Entscheidung der Beschwerde. Mangels Übergangsregelung kann hier nicht anders entschieden werden, denn die Pfändungsmaßnahme ist ja wie die Zwangsvollstreckung insgesamt (s.o.) noch nicht beendet! Der Kern des Falles: Der PKW selbst ist weder eine Brille noch ein Hörgerät, fällt damit nicht direkt unter den Wortlaut „gesundheitliche Gründe“, ermöglicht dem schwer kranken Schuldner aber die Teilnahme am öffentlichen Leben. Die Zwangsvollstreckung erfolgt zwar im Auftrag des Gläubigers (siehe § 753 ZPO), wird aber durch staatliche Hoheitsorgane durchgeführt, die an das Grundgesetz gebunden sind. ein entsprechender Anspruch des dortigen Schuldners nach § 851 Abs. 1 ZPO, § 399 BGB nicht pfändbar war (...). Die dieser Entscheidung zugrundeliegende Fallkonstellation ist jedoch mit derjenigen im Streitfall, bei der der etwaige Anspruch gegen den Fonds “Heimerziehung in der DDR” durch die Auszahlung des betreffenden Betrags und nicht durch die Lieferung des Pkw erfüllt worden ist, nicht vergleichbar. Somit liegt kein Verstoß gegen das Pfändungsverbot des §§ 851 ZPO, 399 BGB vor. b) Verstoß gegen das Pfändungsverbot des § 811 I Nr. 1 lit. c ZPO Fraglich ist, ob das Vollstreckungsorgan gegen das Vollstreckungsverbot des § 811 I Nr. 1 lit. c ZPO verstoßen hat. Dies wäre der Fall, wenn S den gepfändeten Pkw diesen aus gesundheitlichen Gründen benötigen würde. [20] (...) Danach unterliegen der Pfändung nicht Sachen, die der Schuldner oder eine Person, mit der er zusammen in einem gemeinsamen Haushalt lebt, aus gesundheitlichen Gründen benötigt. Diese Vorschrift, die den bisherigen § 811 Abs. 1 Nr. 12 ZPO a.F. unter Erweiterung seines Anwendungsbereichs ersetzt (vgl. BT-Drucks. 19/27636, S. 29), ist durch das am 1. Januar 2022 in Kraft getretene Gesetz zur Verbesserung des Schutzes von Gerichtsvollziehern vor Gewalt sowie zur Änderung weiterer zwangsvollstreckungsrechtlicher Vorschriften und zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes (BGBl. 2021 I S. 850 ff.) eingeführt worden. Maßstab für die Überprüfung der Beschwerdeentscheidung im Rechtsbeschwerdeverfahren auf Rechtsfehler ist die Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts. Zu berücksichtigen ist daher auch ein nach Erlass der Beschwerdeentscheidung ergangenes neues Gesetz, sofern es nach seinem zeitlichen Geltungswillen das streitige Rechtsverhältnis erfasst (...). Das ist hier der Fall. Das genannte Gesetz enthält keine Übergangsregelung und ist auf nicht abgeschlossene Pfändungsmaßnahmen wie im Streitfall anwendbar. [21] Die Entscheidung des Beschwerdegerichts stellt sich insoweit auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (vgl. § 577 Abs. 3 ZPO), weil auf der Grundlage der bisher getroffenen Feststellungen nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass für den Pkw des Schuldners ein Pfändungsverbot nach § 811 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c ZPO besteht. Zwar resultieren aus der vom Schuldner für nötig erachteten Nutzung des Fahrzeugs zum Aufsuchen seiner in H. praktizierenden ärztlichen Therapeutin für sich genommen keine “gesundheitlichen Gründe” im Sinne der Vorschrift (...). Nicht von vornherein ausgeschlossen ist es aber, dass sich die Unpfändbarkeit des Pkw nach § 811 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c ZPO daraus ergibt, dass der Schuldner den Pkw benötigt, um damit die aus seiner psychischen Erkrankung herrührenden Nachteile teilweise zu kompensieren und seine Eingliederung in das öffentliche Leben wesentlich zu erleichtern. (...) [22] Dass der Schuldner den Pkw, wie er geltend macht, benötigt, um seine langjährige, in H. praktizierende ärztliche Therapeutin aufzusuchen, reicht für sich genommen für eine Unpfändbarkeit nach § 811 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c ZPO nicht aus. Dabei handelt es sich nicht um “gesundheitliche Gründe” im Sinne dieser Vorschrift. [23] Die Pfändungsverbote des § 811 Abs. 1 ZPO dienen dem Schutz des Schuldners im öffentlichen Interesse und beschränken die Durchsetzbarkeit von Ansprüchen mit Hilfe staatlicher Zwangsvollstreckungsmaßnahmen. Jura Intensiv Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 11/2022 Zivilrecht 575 Sie sind Ausfluss der in Art. 1 und Art. 2 GG garantierten Menschenwürde beziehungsweise allgemeinen Handlungsfreiheit und enthalten eine Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG). Dem Schuldner soll dadurch die wirtschaftliche Existenz erhalten werden, um - unabhängig von Sozialhilfe - ein bescheidenes, der Würde des Menschen entsprechendes Leben führen zu können (...). [24] In diesem Regelungszusammenhang steht auch die Vorschrift des § 811 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c ZPO als Nachfolgebestimmung von § 811 Abs. 1 Nr. 12 ZPO a.F., wonach künstliche Gliedmaßen, Brillen und andere wegen körperlicher Gebrechen notwendige Hilfsmittel unpfändbar waren, soweit diese Gegenstände zum Gebrauch des Schuldners und seiner Familie bestimmt waren. Der Wortlaut des § 811 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c ZPO ist nach der Neufassung weiter, so dass die Vorschrift nun allgemein Hilfs- und Therapiemittel erfasst, die zum Ausgleich oder zur Minderung einer gesundheitlichen Beeinträchtigung benötigt werden (...). Mit der Neufassung gemäß § 811 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c ZPO sollen etwa auch Sachen geschützt sein, die der Schuldner aufgrund einer psychischen Erkrankung - wie beispielsweise eine Staffelei im Rahmen einer Kunsttherapie - benötigt (vgl. BT-Drucks. 19/27636, S. 29 f.); die in § 811 Abs. 1 Nr. 12 ZPO a.F. enthalten gewesene Beschränkung auf körperliche Gebrechen ist entfallen (...). Die neugefasste Vorschrift soll den veränderten rechtlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten sowie den gewandelten gesellschaftlichen Realitäten Rechnung tragen (vgl. BT- Drucks. 19/27636, S. 1 f.). Der Normzweck hat sich durch die Neufassung vom Grundsatz her hingegen nicht geändert: Er liegt darin, eine gesundheitliche Beeinträchtigung zu behandeln beziehungsweise die aus einer gesundheitlichen Beeinträchtigung resultierenden Nachteile auszugleichen oder zu verringern und dem Schuldner so ein angemessenes Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen (...). Dem Schuldner sollen die dafür notwendigen Gegenstände belassen werden. [25] Dabei ist ein dahingehender Zusammenhang, dass der unpfändbare Gegenstand selbst bereits das Hilfs- oder Therapiemittel bezüglich der gesundheitlichen Beeinträchtigung sein muss, indes nicht entbehrlich und die Vorschrift entsprechend einschränkend auszulegen. Die Vorgängerregelung in § 811 Abs. 1 Nr. 12 ZPO a.F. war insofern von ihrem Wortlaut her eindeutig (“künstliche Gliedmaßen, Brillen und andere wegen körperlicher Gebrechen notwendige Hilfsmittel”). Es ist nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber diesen Zusammenhang im Zuge der Neufassung der Vorschrift aufgeben wollte. Vielmehr ist zu berücksichtigen, dass es sich bei § 811 ZPO um eine Ausnahmevorschrift handelt, die nicht entsprechend angewandt oder zu weit ausgelegt werden darf (...). Es reicht daher nicht aus, dass - wie der Schuldner geltend macht - der Pkw lediglich als Beförderungsmittel dazu dienen soll, an den Ort zu gelangen, an dem die Therapeutin praktiziert. Eine entsprechende Auslegung würde den Anwendungsbereich von § 811 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c ZPO übermäßig ausdehnen. So müsste dann etwa auch ein vom Schuldner beiseitegelegter Geldbetrag für den Erwerb eines Pkw für Arztbesuche oder auch jeder anderweitige Gegenstand, den der Schuldner zu veräußern beabsichtigt, um aus dem Erlös einen so zu verwendenden Pkw zu finanzieren, “aus gesundheitlichen Gründen” unpfändbar sein. Ein derart weitgehendes Verständnis kann der Vorschrift nicht entnommen werden und würde zudem zu kaum überwindbaren Abgrenzungs- und Nachweisproblemen führen. Jura Intensiv Die Neufassung des Gesetzes schützt Schuldner nicht nur vor dem Verlust von Brillen, Prothesen und Hörgeräten, sondern auch vor dem Verlust von Therapiemitteln bei psychischen Erkrankungen. Auslegung des Normzwecks Begrenzung des Normzwecks: Der Pkw ist nicht schon deshalb ein Therapiemittel, weil er dazu dient, an den Ort zu gelangen, an dem sich die Therapeutin des Schuldners befindet. Nicht alles, was der Therapie dient, ist von vornherein als unpfändbar anzusehen. Diesen Aspekt hat das Beschwerdegericht nach Ansicht des BGH nicht ausreichend berücksichtigt. Es geht, wie so oft, um die Umstände des Einzelfalles. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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