586 Nebengebiete RA 11/2022 Jede sozial gerechtfertigte Kündigung setzt eine negative Zukunftsprognose voraus. Kündigung ist nämlich nie „Strafe“, sondern „Vorsorge“ für die Zukunft. 2. Die Kündigung ist gemäß § 1 II KSchG sozial gerechtfertigt, weil ein im Verhalten der Klägerin liegender Grund vorliegt, der eine negative Zukunftsprognose rechtfertigt und die Interessenabwägung hier zugunsten der Beklagten ausfällt. 2.1. Die Voraussetzungen des allgemeinen Kündigungsschutzes liegen vor. Die Beklagte beschäftigt regelmäßig deutlich mehr als 10 vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer, § 23 I KSchG. Die Klägerin ist seit 01.03.2016 beschäftigt, also zum Kündigungszeitpunkt offensichtlich länger als 6 Monate, § 1 I KSchG. Die Voraussetzungen einer verhaltensbedingten Kündigung fasst das LAG nebenstehend sehr „schön“ zusammen. Maßgeblich ist ein objektiver Beurteilungsstandpunkt. Dabei sind u.a. zu berücksichtigen - auf Arbeitgeberseite: evtl. angerichteter Schaden, Gefährdung von Kollegen, verursachte Betriebsablaufstörungen, Auswirkungen auf das Verhalten der Kollegen, Wiederholungsgefahr sowie Imageverlust gegenüber Kunden und Mitbewerbern. - auf Arbeitnehmerseite: eine langjährige Betriebszugehörigkeit, evtl. Mitverschulden des Arbeitgebers, früheres beanstandungsloses Verhalten des Arbeitnehmers, Häufigkeit des kritisierten Fehlverhaltens, Schwere des Pflichtverstoßes, das Lebensalter bzw. die Möglichkeit, noch einen vergleichbaren Arbeitsplatz zu finden sowie etwaige Unterhaltsverpflichtungen. Vor allem für das 2. Examen: Gemäß § 1 II 4 KSchG hat der Arbeitgeber die Tatsachen darzulegen und zu beweisen, die die Kündigung rechtfertigen. Er ist dabei auch für den Ausschluss von seitens des Arbeitnehmers vorgebrachten Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen darlegungs- und beweispflichtig. In der Klausur sollten Sie den folgenden Prüfungspunkt mit „abstrakte Eignung“ o. „abstrakt geeigneter Kündigungsgrund“ überschreiben. 2.2. Für eine verhaltensbedingte Kündigung genügen im Verhalten des Arbeitnehmers liegenden Umstände, die bei verständiger Würdigung in Abwägung der Interessen der Vertragsparteien die Kündigung als billigenswert und angemessen erscheinen lassen. Als verhaltensbedingter Grund ist insbesondere eine schuldhafte, vorwerfbare und rechts- oder vertragswidrige Verletzung von Haupt- und/oder Nebenpflichten aus dem Arbeitsverhältnis geeignet. Entsprechende Pflichten bestehen im Leistungsund im Vertrauensbereich. Vertragsstörungen im Leistungsbereich sind z.B. dann gegeben, wenn der Arbeitnehmer eine Schlechtleistung erbringt, wobei grundsätzlich eine Arbeitsleistung „mittlerer Art und Güte“ geschuldet ist. Es genügen Umstände, die aus Sicht eines ruhig und verständig urteilenden Arbeitgebers eine Kündigung als angemessene Reaktion auf das Fehlverhalten des Arbeitnehmers erscheinen lassen. Die Berechtigung einer verhaltensbedingten Kündigung ist allerdings nicht daran zu messen, ob sie als Sanktion für den in Rede stehenden Vertragsverstoß angemessen ist. Im Kündigungsrecht gilt nicht das Sanktionsprinzip, sondern das Prognoseprinzip. Eine verhaltensbedingte Kündigung ist gerechtfertigt, wenn eine störungsfreie Vertragserfüllung in Zukunft nicht mehr zu erwarten ist und künftigen Pflichtverstößen nur durch die Beendigung der Vertragsbeziehung begegnet werden kann. Das ist nicht gegeben, wenn mildere Mittel und Reaktionen, z.B. eine Abmahnung, geeignet sind, beim Arbeitnehmer eine Verhaltensänderung zu bewirken. Beruht die Vertragspflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann. Einer Abmahnung bedarf es nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes u.a. dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht. Jura Intensiv 2.3. Ausgehend von diesen Grundsätzen gilt hier Folgendes: 2.3.1. Eine Pflichtverletzung liegt in Form der Nichteinhaltung der Arbeitsanweisung „Clean desk policy“ unstreitig vor. Die Klägerin hat entgegen der Anweisung Unterlagen mit sensiblen Daten unverschlossen zu einem Zeitpunkt im Schreibtisch aufbewahrt, zu dem sie selbst nicht im Büro anwesend war. Unstreitig war ihr diese Anweisung hinreichend bekannt. (wird ausgeführt) Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG
RA 11/2022 Nebengebiete 587 2.3.2. Die Kündigung ist verhältnismäßig. Steuerbares Verhalten eines Arbeitnehmers rechtfertigt in aller Regel nur nach erfolgloser einschlägiger Abmahnung eine Kündigung. Hier liegen einschlägige wirksame Abmahnungen vor, die eine negative Prognose bzgl. der weiteren störungsfreien Durchführung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigen. Mit einer Abmahnung übt ein Arbeitgeber seine arbeitsvertraglichen Gläubigerrechte in doppelter Hinsicht aus. Zum einen weist er den Arbeitnehmer als seinen Schuldner auf dessen vertragliche Pflichten hin und macht ihn auf die Verletzung dieser Pflichten aufmerksam (Rüge- und Dokumentationsfunktion). Zum anderen fordert er ihn für die Zukunft zu einem vertragstreuen Verhalten auf und kündigt, sofern ihm dies angebracht erscheint, individualrechtliche Konsequenzen für den Fall einer erneuten Pflichtverletzung an (Warnfunktion). Anknüpfend an das BAG stellt das LAG klar, dass einer Abmahnung grundsätzlich keine bloße Ermahnung vorauszugehen hat. Auch bei erstmaligem und nur leichtem Pflichtverstoß kann eine Abmahnung vielmehr verhältnismäßig sein. Vorliegend ist das Übermaßverbot nicht verletzt. (…) Die Klägerin verkennt, dass hier die Erheblichkeit (…) aus der Anzahl der Verstöße resultiert und die Beklagte der Sache nach gerade die unstreitig aufgetretenen Flüchtigkeitsfehler und Nachlässigkeiten als bestandsgefährdend ansieht. Darüber hinaus sind sowohl das Liegenlassen der Akten als auch die fehlende Entsorgung des Datenmülls für sich genommen als erheblich anzusehen. Die Beklagte war daher nicht gehalten, nur eine Rüge oder Ermahnung auszusprechen. Nach weiterer – hier nicht interessierender – Auseinandersetzung mit den Details des Falles stellt das LAG weiterhin klar: Jura Intensiv Damit verkennt die Klägerin, dass es auf eine Absicht bzgl. der Pflichtverletzung nicht ankommt. Auch eine fahrlässige Handlungsweise ist schuldhaft, § 276 BGB. Die Klägerin verkennt weiter, dass die von ihr eingestandenen Flüchtigkeitsfehler, Nachlässigkeiten und Versehen gerade die Schlechtleistung darstellen, die die Beklagte rügt. Es ist zwar grundsätzlich eine Arbeitsleistung „mittlerer Art und Güte“ geschuldet. Dabei kann es also auch vorkommen, dass entsprechende Fehler mal passieren, (…). Eine – hier feststellbare – Vielzahl an solchen Fehlern ist aber nicht mehr als „mittlerer Art und Güte“ anzusehen. Es genügen insoweit Umstände, die aus Sicht eines ruhig und verständig urteilenden Arbeitgebers eine Kündigung als angemessene Reaktion auf das Fehlverhalten des Arbeitnehmers erscheinen lassen. Gleiches gilt für die Erteilung einer Abmahnung. (…) In der Klausur sollten Sie den folgenden Prüfungspunkt mit „konkrete Eignung“ oder „konkret geeigneter Kündigungsgrund“ überschreiben In der Sache trug die klagende Arbeitnehmerin vor, dass „kleine Fehler“ abzumahnen unverhältnismäßig wäre und es schon deshalb keine „Basis“ für eine Kündigung geben würde. Hierzu zunächst das BAG, 31.08.1994, 7 AZR 893/93: Bei Abmahnungen im Arbeitsverhältnis ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Danach ist die Ausübung eines einseitigen Bestimmungsrechts unzulässig, wenn sie der Gegenseite unverhältnismäßig große Nachteile zufügt und andere weniger schwerwiegende Maßnahmen möglich gewesen wären, die den Interessen des Berechtigten ebenso gut Rechnung getragen hätten oder ihm zumindest zumutbar gewesen wären. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird als Übermaßverbot zur Vermeidung schwerwiegender Rechtsfolgen bei nur geringfügigen Rechtsverstößen verstanden. Bei der Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten durch den Arbeitnehmer hat der Arbeitgeber als Gläubiger der Arbeitsleistung zunächst selbst zu entscheiden, ob er ein Fehlverhalten des Arbeitnehmers missbilligen will und ob er deswegen eine Abmahnung erteilen will. Eine Abmahnung ist aber nicht allein deswegen unzulässig, weil der Arbeitgeber auch über den erhobenen Vorwurf hinwegsehen könnte, weil etwa dem Arbeitnehmer ein bewusster Verstoß gegen arbeitsvertragliche Pflichten fern lag. Nachdem das LAG also festgestellt hat, dass die erteilten Abmahnungen nicht unverhältnismäßig waren und nicht das Übermaßverbot (Grüneberg/Grüneberg, § 242 BGB Rn 54) verletzt haben, kommt das LAG zur nächsten – sehr klausurrelevanten – Frage: Zur „Einschlägigkeit“ der Abmahnungen. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis
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