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RA Digital - 11/2022

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610 Strafrecht

610 Strafrecht RA 11/2022 Nach der Landung erkannte sie, dass sie nicht in Polen, sondern in Georgien war. Angesichts dieser Lage fügte sie sich in ihr Schicksal und fuhr mit I und B in ein gemietetes Ferienhaus, ohne dass Zwang auf sie ausgeübt werden musste. Spätestens am darauffolgenden Tag erklärte sie allerdings lautstark, nach B. zurückkehren zu wollen. Haben B, D und I sich gem. §§ 239 I, 25 II StGB strafbar gemacht? PRÜFUNGSSCHEMA: FREIHEITSBERAUBUNG, § 239 I StGB A. Tatbestand I. Einsperren oder auf andere Weise der Freiheit berauben II. Vorsatz bzgl. I. B. Rechtswidrigkeit und Schuld BGH, Urteil vom 06.12.1983, 1 StR 651/83, NJW 1984, 673; MüKo, StGB, § 239 Rn 3 BeckOK, StGB, § 239 Rn 7; Fischer, StGB, § 239 Rn 4 f. Bestätigung der bisherigen (weiten) Auslegung des § 239 I StGB durch den BGH Auslegung des Wortlauts LÖSUNG Dadurch, dass sie H unter einem Vorwand dazu brachten, mit ihnen nach Georgien zu fliegen, könnten B, D und I sich wegen mittäterschaftlicher Freiheitsberaubung gem. §§ 239 I, 25 II StGB strafbar gemacht haben. I. Tatbestand 1. Einsperren oder auf andere Weise der Freiheit berauben „[19] a) Gemäß § 239 Abs. 1 StGB macht sich strafbar, wer einen Menschen einsperrt oder auf andere Weise der Freiheit beraubt. [20] aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und Teilen der Literatur schützt § 239 StGB die potentielle persönliche Bewegungsfreiheit. In sie wird auch dann eingegriffen, wenn der von der Tathandlung Betroffene sich gar nicht wegbewegen will. Entscheidend ist allein, ob es ihm unmöglich gemacht wird, seinen Aufenthalt nach eigenem Belieben zu verändern. Ausschlaggebend ist mithin nur, ob der Betroffene sich ohne die vom Täter ausgehende Beeinträchtigung seiner Bewegungsmöglichkeit fortbegeben könnte, wenn er es denn wollte. Ob er seine Freiheitsbeschränkung überhaupt realisiert, ist danach ohne Belang. Jura Intensiv [21] bb) Eine im Schrifttum weit verbreitete Meinung sieht darin eine – angesichts der […] Versuchsstrafbarkeit der Freiheits-beraubung (§ 239 Abs. 2 StGB) – nicht […] gerechtfertigte Vorverlegung des Vollendungszeitpunkts. Von § 239 StGB sei nur die aktuelle Fortbewegungsfreiheit geschützt. Seiner Freiheit wäre danach nur derjenige beraubt, der sich zu einem von ihm bestimmten Zeitpunkt wegbewegen will, aber nicht kann. Es handle sich bei dem Straftatbestand des § 239 StGB letztlich um einen Spezialfall der Nötigung. [22] cc) Der Senat sieht keinen Anlass, von der bisherigen Auslegung des Tatbestands der Freiheitsberaubung (§ 239 StGB) durch den Bundesgerichtshof abzuweichen. [23] (1) Für die hierfür maßgebliche Bestimmung des geschützten Rechtsguts spricht der Wortlaut der Norm. Seiner (Bewegungs-) Freiheit Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 11/2022 Strafrecht 611 ist objektiv betrachtet derjenige beraubt, der sich aufgrund des Verhaltens eines Dritten nicht wegbewegen kann, wenn er dies wollte. Eine als Zwang empfundene Willensbeugung wohnt dem Begriff der Freiheitsberaubung in objektiver Hinsicht nicht inne. Anders als die Nötigung im Sinne des § 240 StGB setzt der äußere Tatbestand des § 239 StGB nicht voraus, dass einem anderen ein von diesem nicht gewolltes Verhalten aufgezwungen wird. […] [24] (2) Mit dem hohen Gut der persönlichen Bewegungsfreiheit […] wäre es nicht in Einklang zu bringen, die Freiheitsberaubung als einen bloßen Spezialfall der milder sanktionierten Nötigung zu behandeln. […] Dies wird durch systematische Erwägungen gestützt. Die Straftat der Freiheitsberaubung (§ 239 StGB) wiegt nach dem in den jeweiligen Strafrahmen zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetzgebers schwerer als die Nötigung (§ 240 StGB) und steht im Strafgesetzbuch vor ihr. Mit der Einordnung als bloßer Spezialfall des § 240 StGB ließe sich dies kaum vereinbaren. [25] (3) Die Einführung der Strafbarkeit des Versuchs der Freiheitsberaubung (§ 239 Abs. 2 StGB) gibt keinen Anlass für eine andere Auslegung. [...] [Denn es] verbleibt für den Versuch der Freiheitsberaubung auch dann ein Anwendungsbereich, wenn man das geschützte Rechtsgut in der potentiellen Bewegungsfreiheit sieht. Lockt der Täter den Betroffenen in ein Zimmer, um ihn darin einzuschließen, macht er sich wegen eines (fehlgeschlagenen) Versuchs der Freiheitsentziehung strafbar, wenn ihm das Einschließen etwa mangels passenden Schlüssels oder wegen Gegenwehr des Geschädigten nicht gelingt. Zudem bleiben Fälle einer Strafbarkeit wegen untauglichen Versuchs denkbar. [26] (4) Nach alledem ist der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und den ihm folgenden Teilen der Literatur der Vorzug zu geben, wonach § 239 StGB den Schutz der potentiellen persönlichen Bewegungsfreiheit bezweckt. Das bedeutet, dass der Tatbestand lediglich ein Handeln gegen den potentiellen Fortbewegungswillen voraussetzt. [27] dd) Daraus folgt, dass ein im natürlichen Sinn zur Änderung seines Aufenthaltsorts fähiger Mensch nur dann nicht seiner Freiheit im Sinne des § 239 StGB beraubt wird, wenn er (auch) damit einverstanden ist, dass er sich selbst dann nicht fortbewegen könnte, wenn er das wollte. Ist ihm dies hingegen – etwa wie hier aufgrund von List und Täuschung des seine Bewegungsfreiheit aufhebenden Täters – nicht bewusst, ist es ohne Belang, dass er sich aktuell gar nicht fortbewegen will. Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Jura Intensiv [28] Ob ein Einverständnis tatbestandsausschließend ist, muss in Bezug auf das jeweils geschützte Rechtsgut des inmitten stehenden Straftatbestands beurteilt werden. Setzt der Tatbestand ein Handeln gegen den Willen des Berechtigten voraus (z.B. § 123 StGB), schließt dessen durch Täuschung erschlichenes Einverständnis den Tatbestand aus, da dann ein Handeln gegeben ist, das – wenn auch durch List herbeigeführt – dem Willen des Berechtigten entspricht. Bezugspunkt für ein tatbestandsausschließendes Einverständnis in eine Freiheitsberaubung im Sinne des § 239 StGB ist der potentielle Fortbewegungswille. Nötig ist mithin, dass sich der Betroffene der Freiheitsentziehung und der Freiheitsentziehende über das Ausmaß und die Dauer der Freiheitsentziehung einig sind. Systematische Auslegung BGH, Urteil vom 25.02.1993, 1 StR 652/92, NJW 1993, 1807 Zur Möglichkeit eines tatbestandsausschließenden Einverständnisses bei § 239 I StGB BGH, Urteil vom 06.02.1997, 1 StR 527/96, NStZ 1997, 448 © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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