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RA Digital - 11/2022

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564 Zivilrecht

564 Zivilrecht RA 11/2022 Der neue Aspekt: Die Ortungsmöglichkeit durch die SIM-Karten. Die bloße Ortungsmöglichkeit reicht nicht, wenn der Eigentümer selbst das Fahrzeug nicht sofort orten kann, denn nur dann, wenn er selbst orten kann, kann er auch sofort selbst eingreifen. Entscheidend: Der Besitz der B wäre nur gelockert gewesen, wenn sie in der Lage gewesen wäre, die Sachherrschaft des U zu brechen und ihn aus dem Besitz zu setzen. Argumentation mit dem Rechtsgedanken des § 859 II BGB Die bloße Ortungsmöglichkeit genügt nach Ansicht des OLG Celle nicht! Im vorliegenden Fall dauerte die Ortung überdies viel zu lange, um den Besitz des U so schnell beenden zu können, dass man von einer Besitzlockerung der B reden könnte. Ohne eine Vorrichtung, mittels derer der Händler das Fahrzeug aus der Ferne stilllegen kann, lässt sich das Problem wohl nicht lösen. In einer Klausur könnten die Ausführungen zur fehlenden Besitzdienerstellung etwas länger ausfallen. Die wesentlichen Punkte, warum U kein Besitzdiener ist, finden Sie hier allerdings auch. Für die Annahme eines Abhandenkommens gem. § 935 I 2 BGB gibt der Sachverhalt nichts her. Eine Stellung der B als mittelbare Besitzerin gegenüber U ließe sich dem BGH folgend (s.o.) aus § 311 II Nr. 1 BGB ableiten, jedoch fehlen Anhaltspunkte, wie der Pkw von U zu P gelangt ist. Weil die Fälschung der Papiere so professionell vorgenommen wurde, ist hier lebensnah von Freiwilligkeit bei diesem Besitzwechsel auszugehen. nicht stattfand. Fraglich ist aber, ob die Verwendung der SIM-Karten, welche der Polizei mit Hilfe der Herstellerin die Ortung des Fahrzeugs ermöglichten, gegen eine Aufgabe des unmittelbaren Besitzes und für eine bloße Besitzlockerung spricht. Dies wäre zu bejahen, wenn die Verwendung der SIM- Karten einer Begleitung des Probefahrers durch einen Menschen gleich käme. [29] Ob die bloße Ortungsmöglichkeit überhaupt einer Begleitung in diesem Sinne vergleichbar sein kann, bedarf keiner abschließenden Entscheidung. Die durch den Einbau von zwei SIM-Karten eröffnete Überwachungsmöglichkeit stellt jedenfalls dann keine technische Vorrichtung dar, die einer Begleitung vergleichbar wäre, wenn die eingebauten SIM-Karten nicht dem Eigentümer, sondern nur der Polizei mit Unterstützung der Fahrzeugherstellerin eine Ortung ermöglichen. [30] (…) Entscheidend ist vielmehr, dass der Interessent, um selbst Sachherrschaft zu erlangen, diejenige des Besitzers brechen und ihn aus dem Besitz setzen müsste. Eine vergleichbare Lage fehlt bei der bloßen Überwachungsmöglichkeit mittels SIM-Karten aber. [31] Das wird durch § 859 Abs. 2 BGB bestätigt. Nach dieser Vorschrift darf, wenn eine bewegliche Sache dem Besitzer mittels verbotener Eigenmacht weggenommen wird, er sie dem auf frischer Tat betroffenen oder verfolgten Täter mit Gewalt wieder abnehmen. Dementsprechend hindern weder die Betroffenheit auf frischer Tat noch die Verfolgung des Täters den Besitzverlust. Die Nacheile erhält dem früheren Besitzer lediglich das Recht, sich den bereits durch verbotene Eigenmacht entzogenen Besitz wieder zu verschaffen (…). Darüber geht auch die hier nur eröffnete Ortungsmöglichkeit keinesfalls hinaus. [32] Zudem erlaubt die hier durch die SIM-Karten geschaffene Überwachungsmöglichkeit eine Ortung nur mit erheblichem zeitlichen Verzug. Die Beklagte musste sich zunächst an die Polizei und diese an den Fahrzeughersteller wenden. Sie verweist in der Berufungsbegründung auf Blatt 26 f. der Ermittlungsakte, wonach die Polizei H. sich zum Zwecke der Ortung der beiden SIM-Karten am 9. September 2020 an die Herstellerin gewandt hatte. Zwischen dieser Anfrage und dem Verlust des Fahrzeugs lag damit ein voller Tag. Das ist, gemessen an dem Maßstab des § 859 Abs. 2 BGB, nicht ausreichend. Jura Intensiv Folglich lag keine Besitzlockerung der B vor. Ein Abhandenkommen gem. § 935 I 1 BGB läge auch vor, wenn U Besitzdiener der B gem. § 855 BGB geworden wäre. Dann wäre B unmittelbare Besitzerin geblieben und ihr wäre der Besitz abhanden gekommen, als U den Pkw an P weitergab. Indem U aber weder in einem sozialen Abhängigkeitsverhältnis zu B stand, noch den Weisungen der B bei der unbegleiteten, eine Stunde dauernden Probefahrt Folge zu leisten hatte, liegen die Voraussetzungen des § 855 BGB nicht vor. Damit steht fest, dass B ihren unmittelbaren Besitz freiwillig aufgab und der Pkw ihr nicht i.S.d. § 935 I BGB abhanden gekommen ist. Folglich hat K von P gem. § 932 I BGB gutgläubig das Eigentum am Pkw erlangt. Also ist B nicht mehr Eigentümerin. III. Kein Recht der B zum Besitz gem. § 986 BGB Es ist weder ein eigenes Recht der B zum Besitz gem. § 986 I 1 1. Fall BGB noch ein abgeleitetes Besitzrecht der B ersichtlich. B. Ergebnis K hat gegen B einen Anspruch auf Herausgabe des Pkw gem. § 985 BGB. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 11/2022 Zivilrecht 565 Problem: Zum Ausschluss des Widerrufsrechts gem. § 312g II Nr. 1 BGB Einordnung: Schuldrecht LG Cottbus, Urteil vom 29.09.2022 2 O 223/21 (leicht abgewandelt) EINLEITUNG Wer Hochbetagte in der Familie hat, reagiert hocherfreut, wenn Gerichte der um sich greifenden Rentner-Abzocke Einhalt gebieten. SACHVERHALT Die B handelt mit Faksimiles historischer Bücher. Der Vertrieb erfolgt über Handelsvertreter, welche potentielle Käufer in deren Häuslichkeit aufsuchen. Am 28.05.2020 erhielt der hochbetagte K in seiner Wohnung Besuch von einem Vertreter der B und schloss dort mit B einen Vertrag über den Kauf eines Faksimiles mit dem Titel „Liber Scivias – Die göttlichen Visionen der Hildegard von Bingen“ zu einem Preis von 7.920 €. Auf der Bestellurkunde vom 28.05.2020 befindet sich ein Kästchen mit dem nachfolgenden Text: „Personalisierung gewünscht / Name und Editionsnummer auf Messingschild (Widerrufsrecht nach Lieferung ausgeschlossen)“. Das Kästchen ist händisch angekreuzt. Ein entsprechendes Messingschild kostet weniger als 20,- € und wird üblicherweise mit Schrauben oder Nieten befestigt, lässt sich ohne Substanzbeeinträchtigung an der eigentlichen Ware wieder entfernen und durch ein anderes, gleichgroßes Messingschild ersetzen. Der Bestellurkunde lagen eine fehlerhafte Widerrufsbelehrung bei. K zahlte den Kaufpreis und erhielt das Faksimile. Auf der Innenseite des Einbandes des gelieferten Faksimiles ist ein gefaltetes Blatt Papier eingeklebt. Auf der linken Seite des Blattes wird unter der Überschrift „Notarielle Beurkundung“ bekundet, dass das Faksimile die Nummer „DEX - 87 -“ trage. Die Erklärung ist mit einer unleserlichen Unterschrift über dem gedruckten Namen „Mag. Bernhard Schilcher“ versehen und auf den 15.05.2022 datiert. Ferner ist dort unter dem vorgedruckten Text: „Dies ist das persönliche Exemplar für“ handschriftlich der Name des K eingetragen. Eine Unterschrift befindet sich auf dieser Seite des eingeklebten Blattes nicht. Außer dieser Eintragung des Namens des K enthält das Buch keine auf K individualisierten Merkmale, insbesondere auch kein Messingschild. Nach Zahlung des Kaufpreises erklärte K am 25.01.2021 den Widerruf. K begehrt die Rückzahlung der 7.920 € von B. B verweigert die Rückzahlung mit der Begründung, zum einen sei das Widerrufsrecht gem. § 312g II Nr. 1 BGB ausgeschlossen, zum anderen sei der Widerruf nicht fristgemäß erklärt worden. Zu Recht? Jura Intensiv A. Anspruch des K gegen B auf Rückzahlung der 7.920 € gem. §§ 355 III, 357 BGB K könnte einen Anspruch gegen B auf Rückzahlung der 7.920 € aus einem Rückgewährschuldverhältnis gem. §§ 355 III, 357 BGB haben. Dann muss K ein Verbraucherwiderrufsrecht i. S. d. § 355 BGB zugestanden haben, das er fristgerecht mittels einer Widerrufserklärung ausgeübt hat. LEITSATZ DER REDAKTION Das Widerrufsrecht gem. §§ 355, 312, 312b, 312g I BGB ist gem. § 312g II Nr. 1 BGB nicht ausgeschlossen, wenn sich die vom Verbraucher gewünschte Individualisierung der Ware ohne Substanzbeeinträchtigung und mit geringen Kosten rückgängig machen lässt. Der Fall wies im Original zwei weitere Probleme auf. Zum einen enthielt die Widerrufserklärung des K nicht das Wort Widerruf, war aber ansonsten eindeutig genug im Sinne des § 355 I 4 BGB. Zum anderen enthielt die Widerrufsbelehrung mehrere Fehler. Aus Platzgründen verzichten wir hier auf diesen Teil des Urteils und konzentrieren uns auf den zurzeit in vielen veröffentlichten Entscheidungen diskutierten Ausschlussgrund des § 312g II Nr. 1 BGB. Der Fall eignet sich gut für eine Anwaltsklausur im Assessorexamen. Referendaren ist zu empfehlen, den Fall im Original zu lesen. I. Widerrufsrecht des K i. S. d. § 355 BGB K könnte ein Widerrufsrecht i. S. d. §§ 355, 310 III, 312, 312b, 312g I BGB zugestanden haben. Ein solches setzt voraus, dass K und B einen Verbrauchervertrag © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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