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RA Digital - 12/2019

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638 Referendarteil:

638 Referendarteil: Zivilrecht RA 12/2019 Problem: Auswirkungen von Steuerschulden auf Pfändungsfreibeträge Einordnung: ZPO II, Insolvenzrecht BGH, Beschluss vom 19.09.2019 IX ZB 2/18 LEITSATZ Die Entstehung einer Steuerschuld, welche der Schuldner begleichen möchte, ist in der Regel kein ausreichender Grund für die Erhöhung des unpfändbaren Betrages. Die Entscheidung ergeht gemäß § 4 InsO i.V.m. §§ 765a, 764 I, III ZPO als Beschluss. Im Beschluss erfolgen die Ausführungen zum Tatbestand unter I; die Entscheidungsgründe unter II. Antrag des S gemäß § 765a ZPO Aufgrund der atypischen Situation empfiehlt es sich, dass Ausführungen zur Zuständigkeit des Gerichts erfolgen. Sachliche Zuständigkeit gemäß §§ 36 IV 1, 2 InsO Erste geprüfte Anspruchsgrundlage: Anpassung der Pfändungsfreigrenze zwecks Deckung des notwendigen Lebensunterhaltes EINLEITUNG Ziel des Insolvenzverfahrens gemäß § 1 InsO ist es, Gläubiger aus dem – soweit noch vorhandenen – Restvermögen des Schuldners zu befriedigen und dem redlichen Schuldner zugleich die Möglichkeit zu eröffnen, sich von den restlichen Verbindlichkeiten zu befreien. Im vorliegenden Fall begehrt ein Schuldner, der Einkünfte aus selbstständiger sowie nicht selbstständiger Tätigkeit hat, die Lohnpfändung aufzuheben, da das Finanzamt Steuerbeträge aus vergangenen Jahren vom ihm in Höhe von über 26.000 € erstattet verlangt. Der Fall durchlief den gesamten Instanzenzug und wird hier als erstinstanzliche Entscheidung dargestellt. GRÜNDE I. Am (…) wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners (S) eröffnet und die weitere Beteiligte (B) zur Insolvenzverwalterin bestellt. Der Arbeitgeber des S zahlte den pfändbaren Teil des Arbeitseinkommens an B und den unpfändbaren Teil an S aus. Für die Jahre 2012, 2013 und 2014 berücksichtigte das Finanzamt als Einkünfte des S dessen Arbeitseinkommen und Gewinnanteile als Kommanditist der „Z GmbH & Co. KG“. Das Finanzamt setzte sämtliche Steuern gegen das insolvenzfreie Vermögen des S mit einem Anteil fest, der dem Verhältnis des unpfändbaren Arbeitseinkommens zur Bemessungsgrundlage entspricht und verlangte gegenüber S die Zahlung von zuletzt 26.081,39 €. S behauptet, er sei wirtschaftlich offenkundig nicht in der Lage, diese Schulden aus seinem bisherigen pfändungsfreien Einkommen zu begleichen; ferner, dass die Festsetzungen des Finanzamts zu neuen Schulden führen, für die ihm im Ergebnis keine Restschuldbefreiung erteilt werde. S beantragt, die Lohnpfändung im laufenden Insolvenzverfahren in Höhe von 26.081,39 € aufzuheben und einzustellen. Jura Intensiv II. Der Antrag ist zulässig, aber unbegründet. Das (…)-Gericht als Insolvenzgericht ist als besonderes Vollstreckungsgericht gemäß § 36 IV S. 1 i.V.m. § 2 InsO sachlich zuständig. Der Antrag des S betrifft die Höhe des pfändungsfreien Einkommens gemäß §§ 850e, 850f, 850i ZPO. Ein Anspruch auf Erhöhung des unpfändbaren Betrages gemäß § 850f I lit. a) ZPO besteht nicht. Die Anspruchsvoraussetzungen liegen nicht vor. Nach dieser Vorschrift kann das Insolvenzgericht als Vollstreckungsgericht dem S auf Antrag von dem nach §§ 850c, 850d ZPO pfändbaren Teil seines Arbeitseinkommens einen Teil belassen, wenn dieser nachweist, dass bei Anwendung der Pfändungsfreigrenzen der notwendige Lebensunterhalt im Sinne des Sozialrechts für sich und für die Personen, denen er Unterhalt zu gewähren © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 12/2019 Referendarteil: Zivilrecht 639 hat, nicht gedeckt ist. Vortrag hierzu, dass S seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann, liegt aber nicht vor. Ein Anspruch auf Erhöhung des unpfändbaren Betrages gemäß § 850f I lit. b) ZPO besteht ebenfalls nicht. Das hier erforderliche besondere Bedürfnis des Schuldners setzt voraus, dass dieses konkret und aktuell vorliegt und außergewöhnlich in dem Sinne ist, dass es bei den meisten Personen in vergleichbarer Lage nicht auftritt. Die Vorschrift dient dazu, einen Ausgleich zu schaffen, wenn der individuelle Bedarf durch die pauschal unpfändbaren Einkommensteile aufgrund besonderer Umstände nicht gedeckt werden kann. Besondere Bedürfnisse aus persönlichen Gründen sind typischerweise gesundheitlich bedingte Mehraufwendungen; solche aus beruflichen Gründen sind vor allem besondere Aufwendungen, um die Berufstätigkeit zu ermöglichen. [18] Steuern, die unmittelbar abzuführen sind und deshalb die Mittel vermindern, die dem Schuldner zum Lebensunterhalt zur Verfügung stehen, werden in der Regel gemäß § 850e Nr. 1 Satz 1 ZPO für die Berechnung des pfändbaren Arbeitseinkommens nicht mitgerechnet. [19] Diesen Aufwendungen ist gemein, dass der Schuldner sich ihnen nicht entziehen kann, ohne seine Existenz oder die Fortsetzung seiner Berufstätigkeit zu gefährden, die Grundlage für sein pfändungsfreies Arbeitseinkommen ist. § 850f Abs. 1 lit. b ZPO betrifft die Befriedigung gegenwärtiger Bedürfnisse des Schuldners; nicht erfasst ist grundsätzlich die Begleichung alter Schulden (OLG Oldenburg, MDR 1959, 134; OLG Frankfurt, Rpfleger 1978, 265; Zöller/Herget, aaO; Keller/Schrandt, aaO Rn. 828; Stöber, aaO Rn. 1179). Denn Pfändungsverbote sind nur aus Gründen des Sozialstaatsprinzips gerechtfertigt (BGH, Beschluss vom 19. Oktober 2017 - IX ZB 100/16, WM 2017, 2205 Rn. 16). Durch sie soll dem Schuldner die wirtschaftliche Existenz erhalten werden, um ein bescheidenes, der Würde des Menschen entsprechendes Leben führen zu können, unabhängig von Sozialleistungen (…). Sozialleistungen sind aber ihrem Wesen nach nicht dazu bestimmt, der Schuldentilgung zu dienen (BSGE 62, 160, 162). [20] Diese Grundsätze erfassen auch Steuerschulden. Die Entstehung einer Steuerschuld, welche der Schuldner begleichen möchte, ist regelmäßig kein ausreichender Grund für die Anwendung von § 850f Abs. 1 lit. b ZPO, weil dies zur ungerechtfertigten Bevorzugung eines Gläubigers führen würde. In der Einzelzwangsvollstreckung würde ein Gläubiger, der nicht vorrangig gepfändet hat, dem Vollstreckungsgläubiger gegenüber privilegiert (vgl. Keller/Schrandt, aaO Rn. 828; Zöller/Herget, ZPO, 32. Aufl., § 850f Rn. 4). Im Insolvenzverfahren ginge eine Erhöhung des Freibetrags zu Lasten der Masse (§ 36 Abs. 1 InsO). Das Finanzamt würde im Ergebnis auf Kosten der Masse befriedigt und dadurch entgegen §§ 1, 38 InsO bevorzugt. Denn das Finanzamt ist für Steueransprüche, die vor Verfahrenseröffnung begründet wurden, Insolvenzgläubiger gemäß § 38 InsO (BFHE 217, 14, 16). Für danach durch Handlungen des Schuldners begründete Steueransprüche ist es Neugläubiger, dem als Haftungsmasse nur das insolvenzfreie Vermögen des Schuldners zur Verfügung steht (vgl. BFHE 232, 318 Rn. 16 ff). Im Gesetz ist eine solche Bevorzugung des Steuergläubigers nicht angelegt. § 850e Nr. 1 Satz 1 ZPO privilegiert zwar das Finanzamt, soweit die Vorschrift ihm die Lohnsteuer vorab zuweist. Dem Gesetz ist aber nicht zu entnehmen, dass die gesamte Einkommensteuer so zu behandeln wäre (vgl. BFHE 232, 318 Rn. 14; Frotscher, Besteuerung bei Insolvenz, 8. Aufl., S. 82). Jura Intensiv Zweite geprüfte Anspruchsgrundlage: Anpassung der Pfändungsfreigrenze aufgrund besonderer Bedürfnisse des Schuldners aus persönlichen oder beruflichen Gründen. Unmittelbar abzuführende Steuern, bspw. Lohnsteuern, werden zur Berechnung des pfändbaren Arbeitseinkommens nicht mitberechnet. Im vorliegenden Fall handelt es sich aber um nachzuzahlende Steuern aus vergangenen Jahren. BGH, NJW 2018, 954 Kernpunkt der Entscheidung: S möchte, dass „weniger“ Arbeitseinkommen gepfändet wird, damit er die Forderung des FA ausgleichen kann. Das Gericht berücksichtigt hier Interessen, die außerhalb der der Parteien liegen, nämlich die Interessen der Insolvenzgläubiger. Würde die Argumentation des S durchgreifen, würde weniger Arbeitseinkommen gepfändet, was wiederum zu einer Reduzierung der Befriedigung der Insolvenzgläubiger führen würde zugunsten des FA, welches die Forderung aber später erst geltend gemacht hat. © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

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