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RA Digital - 12/2020

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646 Öffentliches Recht

646 Öffentliches Recht RA 12/2020 Die Aufstellung der (Wahlkreis- und) Listenkandidatinnen und ‌kandidaten durch die Parteien ist ein wesentlicher Bereich der Wahlvorbereitung, da die Wahlberechtigten bei der Landtagswahl keine Möglichkeit haben, andere als die ‌[…] vorgeschlagenen Bewerberinnen und Bewerber zu wählen oder ‌[…] Einfluss auf die Listenplätze der Kandidatinnen und Kandidaten zu nehmen. […]“ Mehrfache Beeinträchtigung: 1. Beeinträchtigung: Bewerber/innen bzgl. konkreter Listenplätze, die dem anderen Geschlecht vorbehalten sind, haben nicht die gleiche Chance bei einer Kandidatur. 2. Beeinträchtigung: Verzerrung der Chancengleichheit 3. Beeinträchtigung: Vorzeitige Schließung der Wahlliste, weil ansonsten die Zurückweisung durch den Wahlausschuss droht. II. Beeinträchtigung der passiven Wahlrechtsgleichheit Eine Beeinträchtigung der passiven Wahlrechtsgleichheit kommt unter mehreren Gesichtspunkten in Betracht: „[157] Die passive Wahlgleichheit wird dadurch beeinträchtigt, dass Männer und Frauen nach den Vorgaben des Paritätsgesetzes jeweils nur auf eine Vorliste wählbar sind. Daraus ergibt sich, dass sie nur bestimmte Listenplätze erreichen können. Frauen können, anders als Männer, nicht erfolgreich für die Vorliste der Männer bzw. die für diese reservierten Listenplätze kandidieren; spiegelbildlich gilt für Männer, dass sie, anders als Frauen, nicht auf die Vorliste und Plätze wählbar sind, die für Frauen reserviert sind. Das kann zur Folge haben, dass eine Kandidatin oder ein Kandidat einen weniger aussichtsreichen Listenplatz erhält, als wenn sie oder er auch auf dem vorstehenden Platz hätte kandidieren können. [158] Wenn wesentlich mehr Kandidaten des einen Geschlechts als des anderen Geschlechts bei der Aufstellung einer Wahlliste um einen Listenplatz konkurrieren, kommt es zudem zu einer Verzerrung der Chancengleichheit. Dem in der Wahlversammlung zahlenmäßig geringer vertretenen Geschlecht stehen pro Kandidatin bzw. Kandidat mehr Listenplätze zur Verfügung, als den jeweiligen Bewerberinnen und Bewerbern des stärker repräsentierten Geschlechts. […] [159] Die passive Wahlrechtsgleichheit […] wird auch dadurch beeinträchtigt, dass sie von einer Kandidatur auf der Landesliste ihrer Partei, der Antragstellerin, vollständig ausgeschlossen werden können, wenn nicht Kandidatinnen oder Kandidaten des anderen Geschlechts in gleicher Anzahl […] wie ihres eigenen Geschlechts kandidieren. Denn Landeslisten von Parteien, die nicht vollständig die „Reißverschlussvoraussetzungen“ gemäß § 25 Abs. 3 Sätze 4 und 5 BbgLWahlG erfüllen, werden gemäß § 30 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BbgLWahlG in Gänze zurückgewiesen. Das kann die die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer unmittelbar betreffende Folge haben, dass die Antragstellerin eine Landesliste entsprechend § 25 Abs. 3 Satz 5 BbgLWahlG schließt, wenn eine der Vorlisten erschöpft ist. Haben die Beschwerdeführer und Beschwerdeführerinnen noch keinen Landeslistenplatz erhalten, solange eine abwechselnde Besetzung noch möglich ist und kandidiert auf dem letzten vergebenen Platz bereits eine Person ihres Geschlechts, werden sie einen Listenplatz nicht mehr erhalten.“ Jura Intensiv Somit ist die passive Wahlrechtsgleichheit unter mehreren Gesichtspunkten beeinträchtigt. III. Rechtfertigung der Beeinträchtigung Fraglich ist, ob diese Beeinträchtigung verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Inhaltsverzeichnis © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG

RA 12/2020 Öffentliches Recht 647 1. Art. 22 V 1 LV Die Beeinträchtigung der passiven Wahlrechtsfreiheit könnte durch Art. 22 V 1 LV gerechtfertigt sein. Das verlangt eine Vermessung des durch diese Norm eröffneten gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums unter Beachtung der Vorgaben des Demokratieprinzips. „[177] Ein Ausgestaltungsspielraum erfordert und ermöglicht lediglich die notwendige Ausgestaltung der Wahlen. Der Gesetzgeber muss zwingend eine von der Landesverfassung nicht abschließend getroffene grundlegende Entscheidung für ein Wahlsystem vornehmen, damit die (Parlaments-)überhaupt durchgeführt werden können. Die Landesverfassung sieht mit Art. 22 Abs. 3 Satz 3 (nur) ein Wahlverfahren vor, „das die Persönlichkeitswahl mit den Grundsätzen der Verhältniswahl verbindet.“ Bei der Festle gung der technischen Einzelheiten verfügt der Gesetzgeber ‌[…] über einen weiten Gestaltungsspielraum. Dieser gestattet jedoch nur die Ausfüllung des verfassungsrechtlichen Rahmens, nicht aber davon abweichende Regelungen. […] [178] Die Regelungen des Paritätsgesetzes unterliegen nicht […] einer nur eingeschränkten Überprüfung durch das Verfassungs gericht. Eine strikte verfassungsgerichtliche Kontrolle ist bei Eingriffen in das freie Wahlvorschlagsrecht der Parteien, das seinerseits Ausdruck des Demokratieprinzips aus Art. 2 Abs. 1 LV ist, deshalb geboten, weil mit Regelungen, die die Bedingungen der politischen Konkurrenz berühren, die jeweilige parlamentarische Mehrheit gewissermaßen in eigener Sache tätig wird. Gerade bei der Wahlgesetzgebung besteht die Gefahr, dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt. […] [180] Das Paritätsgesetz konkretisiert nicht den Wahlrechtsgrundsatz der Gleichheit der Wahl. Das […] Gesetz verfolgt mit der Förderung der Gleichberechtigung von Frau und Mann auch einen wahlrechtsfremden Zweck. […] Jura Intensiv [182] Das Demokratieprinzip […] und […] eine „effektive Mitbestimmung der Bürgerinnen“ […] erfordern keine paritätische Geschlechtervertretung im Landtag. Aus dem Demokratieprinzip folgt kein Auftrag, für eine „Spiegelung“ der gesellschaftspolitischen Perspektiven und Prioritäten, Erfahrungen und Interessen von Frauen bzw. des Bevölkerungsanteils von Männern und Frauen im Parlament zu sorgen. […] [184] Art. 2 Abs. 2 LV bestimmt das Volk zum Träger der Staatsgewalt. […] Legitimationssubjekt von Art. 2 Abs. 2 LV ist „das Volk“, d. h. die Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger als (Landes-)Staatsvolk, nicht hingegen ein in zwei Gruppen geteiltes Staatsvolk. Jede Ausübung von Staatsgewalt bedarf damit (nur) einer Legitimation, die sich auf das Volk in seiner Gesamtheit zurückführen lässt, nicht aber (auch) auf den jeweils betroffenen oder interessierten Einzelnen. Sie bedarf auch keiner Rückführung auf bestimmte Bevölkerungsgruppen. […] [185] […] Art. 56 Abs. 1 Satz 1 LV macht die Abgeordneten in ihrer Gesamtheit zu Vertretern „des ganzen Volkes“. Jede und jeder gewählte Abgeordnete vertritt das Volk und ist diesem gegenüber verantwortlich. Art. 22 V 1 LV: „Das Nähere regelt ein Gesetz. […]“ • Eröffnung eines gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums • Art. 22 V 1 LV entspricht dem Art. 38 III GG. Reichweite des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums Eine weitgehend gleiche Rechtslage herrscht auf Bundesebene. Gesetzgeberischer Gestaltungsspielraum führt nicht zu beschränkter gerichtlicher Kontrolle, sondern es besteht umgekehrt eine besonders strenge verfassungsgerichtliche Kontrolle. Begründung: Parlamentsmehrheit könnte versucht sein, die eigene Macht sichern. Keine Konkretisierung der Wahlrechtsgleichheit, sondern Verfolgung eines wahlfremden Zwecks Keine Konkretisierung des Demokratieprinzips Demokratieprinzip verlangt keine Spiegelung der Zusammensetzung der Bevölkerung im Parlament Begründung: Jede(r) Abgeordnete ist Vertreter(in) des ganzen Volkes und nicht einzelner Bevölkerungsgruppen. Art. 56 I 1 LV entspricht dem Art. 38 I 2 GG (sog. freies Mandat) © Jura Intensiv Verlags UG & Co. KG Inhaltsverzeichnis

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